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Kapitel 13-1 Teil 3

Am nächsten Morgen ist es wieder ruhig. Keine Schläge sind zu hören. Léon wacht vor Mira auf und stellt fest, dass auch Stinger und Flocke sich noch von der harten Arbeit erholen. Erst als die Sonne schon hoch am Horizont steht, kriechen alle aus ihren bequemen Kojen. Léon steht als erster auf und noch bevor er richtig wach ist, lässt er sich von dem baumfreien Deck in das eiskalte Seewasser fallen. Auch die anderen lassen sich diesen Komfort des Wachwerdens nicht nehmen, und schon bald genießen die vier Freunde das Bad im See. Nach dem Frühstück holt Flocke die Bugleine ein. Stinger lichtet den Anker für die Weiterfahrt. Es dauert nicht lange und eine entwurzelte Birke versperrt ihnen den Weg. Vorsichtig steuert Léon an den umgefallenen Baum heran. Flocke nimmt die Axt und haut den Baum in der Mitte mit kräftigen Schlägen in Stücke. Einige Bäume können sie um oder unterfahren, weil diese sich in anderen Bäumen verfangen haben und nur halbgestürzt über dem Wasser liegen. Die Fahrt gleicht mehr einer Dschungeltour als einer gewöhnlichen Flussfahrt auf dem Oderkanal. An einer Weggabelung muss Léon entscheiden, ob sie die kanalisierte Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße auf der deutschen oder die Ostoder auf polnischer Seite für die Weiterfahrt nehmen wollen. Léon entscheidet sich für die Oder, da er davon ausgeht, dass dort keine Bäume mehr den Weg versperren. Er sollte recht behalten. Der Fluss ist viel zu breit, als dass ihn ein Baum überspannen könnte. Sie fahren hinaus und so weit das Auge reicht sehen die Vier eine Landschaft in seiner ursprünglichsten Form. Léon hat vermutet, dass sich hier die polnische Industrie niedergelassen hat, aber der Fluss ist unberührt und durch den vielen Regen des Sturmes gewaltiger, als er sich das je hätte vorstellen können. Schließlich dringt die Sonne durch die Wolken, und der Lichtstrahl taucht die Landschaft in Regenbogen Farben. Durch das Schilf ist nicht zu erkennen, wo das Wasser aufhört und wo die sanfte Wiesenlandschaft beginnt. Im Wasser können sie eine Ringelnatter schwimmen sehen und in Ufernähe entdeckt Mira die gelben Blüten der Sumpfdotterblume. Flocke kann einen Angler ausmachen, der bis zur Brust im Wasser steht. Als dieser die Bird of Prey entdeckt, hält er ihnen seinen Fang mit erhobener Hand entgegen und winkt die Crew heran.
„Von einem polnischen Angler derartig freundlich begrüßt zu werden, kann nur daran liegen, dass hier selten jemand langfährt“, meint Léon zu Flocke, der wieder am Ruder steht.
Da Stinger beim Anblick der Fische sofort an das Abendessen denkt, ruft er zu dem Angler hinüber, ob er die Fische verkaufen möchte. Dieser winkt mit den Händen.
„Nein, ich möchte sie euch schenken“, ruft der Pole nach kurzer Überlegung zurück.
Auch Léon hat das gehört und dreht sofort bei. Vorsichtig nähern sie sich mit der Bugspitze voran dem Angler, der ihnen zwei große Forellen und einen Zander an den geflickten Bootshacken hängt. Flocke und Léon sind begeistert und bedanken sich freundlichst für das nette Geschenk.
„Gleich nach so einem Sturm angeln?“, fragt Léon, während die Bird of Prey zu treiben beginnt.
„Dann beißen sie am besten“, ruft ihm der Angler zu und fragt gleich weiter: „Wo wollt ihr hin?“
„Nach Vineta“, scherzt Léon wieder.
„Das macht heute keinen Sinn“, pariert der Angler. „Nur an einem Ostersonntag kann man Vineta besuchen!“
Da wundert Léon sich, dass auch der Angler einiges über die Sage zu wissen scheint.
„Ist das sicher?“, lächelt Léon.
„So wird es erzählt“, antwortet der Angler schlau.
„Also nur eine Frage des Timings?“, grinst Léon.
„Nicht nur, da sind noch andere Hürden zu meistern,
aber was nützt es die zu kennen, wenn man nicht weiß wo Vineta zu finden ist“, antwortet der Angler.
„Stimmt, dass ist das Problem. Wir werden es dennoch versuchen. Da wir in wenigen Tagen Ostern haben, müssen wir uns jetzt mit der Suche beeilen!“, ruft Léon, als er den Warnton des Tiefenmessers wahrnimmt.
Durch die Strömung treibt die Bird of Prey immer mehr in Richtung Ufer. Sie können sich nicht länger mit dem im Wasser stehenden Mann unterhalten und Léon legt den Vorwärtsgang wieder ein. Er bedankt sich für die Fische und gibt im letzen Moment Gas, um von der nahenden
Uferböschung frei zu kommen. Léon dreht sich zu den anderen, die vor ihm auf der Bank sitzen.
„Glück gehabt. Für ein Abendessen gehen wir jedes Risiko ein“, scherzt Léon vergnügt und ist froh, nicht auf Grund gelaufen zu sein.
Stinger grinst noch stärker, als er es ohnehin schon macht. Er hält die Fische hoch.
„Die werden wir im Ofen räuchern!“
„Vorher müssen wir zum Einklarieren nach Widuchowa“, sagt Léon, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.
Mit der Strömung machen sie gute Fahrt, obwohl die Maschine nur wenig Mühe hat. Schnell ziehen die Uferlandschaften vorbei und es kommt ihnen vor, als ob sie mit der Bird of Prey rasen würden. Nach einer Weile übernimmt Stinger das Ruder und er muss bei den engen Kurven der Oder rechtzeitig gegensteuern, um nicht an das Ufer zu treiben. Léon sitzt mit Mira auf der Cockpitbank. Beide genießen die Reise, als in der Ferne die deutsche Flagge vom Grenzposten in Sicht kommt.
„Da“, ruft Flocke den anderen zu.
Léon übernimmt das Ruder, dreht die Segelyacht gegen den Strom, um an dem Holzsteg anzulegen, auf dem der Zollbeamte schon auf sie wartet. Mit nur einer Leine wird die Bird of Prey am Steg gehalten und der Zollbeamte erklärt ihnen was es in Polen zu beachten gibt und dass sie gleich zur polnischen Grenzstation weiterfahren können. Léon bedankt sich freundlich und legt wieder ab. Er hält Kurs auf die gegenüberliegende Seite. Auch dort werden sie von einem Beamten in Uniform erwartet. Dieser verlangt, dass die Yacht mit Spring-, Vor- und Achterleine festgemacht wird, um ihm in die Amtsstube folgen zu können. Das flache Gebäude ist grau und schäbig. Der Raum dürftig eingerichtet, und es riecht nach altem Mobiliar. Alle Pässe werden geprüft, Formulare ausgefüllt und jeder erhält den vorschriftsmäßigen Einreisestempel. Da niemand den anderen versteht wird kaum gesprochen. Kurz darauf kann es weitergehen. Sie fahren an den Flusstalniederungen der Oder vorbei, die mit Kanälen und Fliessen durchzogen sind. Plötzlich tauchen in der Ferne die Gebäude von Stettin auf. Fahrgastschiffe kommen in Sicht und zwischen den Brücken geht ein Labyrinth aus Wasserstraßen von der Ostoder ab. Dann wird es ruhiger, die Häuser weniger und die Ufer sind wieder grün. Stettin liegt hinter ihnen, da schlägt Leon der Mannschaft vor, sich einen Liegeplatz bei Golecino (Frauendorf) für die Nacht zu suchen. Flocke hat das Ruder übernommen und steuert die Bird of Prey in den Grabowski Kanal und dann in den großen Jezioro See. Der Gedanke an die frisch geräucherten Fische lässt keine langwierigen Manöver mehr zu, und schnell ist ein Ankerplatz in einer geschützten Bucht gefunden. Schon kurz darauf sitzen alle um den Cockpittisch herum und der Rauch des Räucherofens mischt sich mit der frischen Seeluft.
„Was ist mit Knorki? Ist der bei der Deutschen dabei?“, fragt Léon Stinger neugierig.
„Er hat viel mit seiner Doktorarbeit zu tun, ihm ist die Meisterschaft aber genauso wichtig und deshalb wird er dabei sein“, glaubt Stinger, der sich gegenüber hinsetzt.
Léon schenkt sich ein Glas Wasser ein.
„Früher, als ich bei euch angefangen habe, bestand die Mannschaft nur aus rohen Kerlen und jetzt sind die meisten Spieler akademisch hoch gebildet“, stellt Léon überraschend fest.
„Vier Spieler mit Doktortitel und zwei Drittel sind graduierte Akademiker“, zählt Stinger mit seinen Fingern auf.
Dann kommt Mira, sie setzt sich neben Léon und lehnt sich an seine Schulter.
„Intelligenz schadet nicht“, stichelt sie.
Auch Flocke setzt sich mit einem Glas Bier dazu und schaut Mira zu lange mit gepressten Stirnfalten an, um Zustimmendes zu sagen.
„Für die Kopfarbeit braucht man einen Ausgleich, das ist wohl eher der Grund“, mischt sich Flocke in das Gespräch ein.
„Willst du damit sagen, wenn man strohdumm wäre, dass man dennoch gut spielen kann“, faucht Mira.
„Strohdumm sicherlich nicht, aber wenn ich am Ball bin, denke ich nicht. Ich spiele einfach“, stützt Stinger Flockes Ansicht.
„Stimmt. Du würgst den Gegner ohne es zu merken, denken geht dann nicht“, frotzelt Léon.
Mira steht auf und geht demonstrativ unter Deck ihren Laptop suchen.
„Ich nenne das mit eisernem Willen erfolgreich sein“, rechtfertigt sich Stinger und hofft, dass sie es noch hören kann.
„Dachte ich es mir doch. Du willst dir was beweisen“, heizt Léon die Stimmung an.
Alle warteten nun, wie Stinger darauf reagiert.
„Das auch. Jeder gewonnene Zweikampf ist ein persönliches Erfolgserlebnis, ein Spiel zu gewinnen Ehrensache und ein Tor zu werfen Heldentum“, offenbart er seine Philosophie.
Léon jappst wie ein Fisch, der nach Sauerstoff ringt.
„Übertreibst du da nicht ein wenig?“
„Warum soll er übertreiben? Früher sind wir den Tieren hinterher gerannt und haben sie dann im Team erlegt. Weil uns jetzt der Erfolg des Jagens fehlt, spielen wir Tauchball“, erklärt Flocke simpel, um Stinger beizustehen.
Léon macht den Mund auf, weil er dem Ende des Vortrages ein wenig zustimmt:
„Da magst du vielleicht recht haben. Warum spielen wir sonst alle so gerne dieses verrückte Spiel.“
Mira schaut Léon vom Salon aus an, überlegt, was sie als Frau zu diesem Sport treibt. Sie bleibt aber still.
Endlich sind die Fische fertig. Mit Zitrone, Kartoffeln, Kräuterschmand und frischer Petersilie schmecken sie köstlich. Nach dem Essen sind alle müde und innerhalb von Minuten ist nur noch das Schnarchen von Flocke aus seiner Koje zu hören.

Spät in der Nacht wird Léon durch ein Geräusch geweckt. Er hört ein sanftes, rhythmisches Pochen von drei bis vier Schlägen hintereinander. Dann eine kurze Pause, um wieder von neuem zu beginnen; zu leise für eine schlagende Tür und zu laut für einen tropfenden Wasserhahn. Da das Schiff kein bisschen schwankt, gibt es ihm ein Rätsel auf. Er weiß, dass er nicht eher einschlafen kann, bis er die Ursache kennt und schlüpft aus seiner Koje, um nachzusehen. Sein Spürsinn führt ihn an Deck und kaum ist er
oben, verstummt das Pochen so plötzlich, wie es gekommen ist. Wie immer, wenn er nachts draußen steht, sucht er den Mond am Himmel, doch diesmal kann er ihn nicht finden. Es ist dunkler als sonst und ein Schwan, der sich langsam vom Schiff entfernt, wird nur schwach von den Sternen beleuchtet. Léon stellt sich auf die Heckplattform, spürt das feuchte Teakholz unter seinen Füßen, er spitzt die Ohren, als plötzlich eine fahle Hand auf seiner Schulter liegt. Er schreckt auf. Da wird er von hinten umarmt und hört ihre Flüsterstimme.
„Kannst du nicht schlafen?“, säuselt Mira.
Léon dreht seinen Kopf und spürt, wie sie ihren warmen nackten Körper an den seinen schmiegt.
„Hast du mich erschreckt!“
„Ich habe dich…? Nein, ich habe dich vermisst“, flüstert sie in sein Ohr. „Was machst du hier draußen?“
Léon schaut sie an und sieht, wie ihr Atem sich im weißen Rauch auflöst.
„Ich habe wach gelegen und ein Pochen gehört, da bin ich nachsehen gegangen“, flüstert Léon.
„Und?“, fragt Mira.
„Ein Schwan hat Spinnen vom Rumpf gefressen“, antwortet Léon, indem er sich leicht an sie drückt.
„Wie lecker“, sagt Mira und verzieht dabei ihren weichen Mund.
„Warum konntest du nicht schlafen?“, will Léon wissen.
„Ich habe ein wenig nachgedacht. Darüber, was mit dem Titel gemeint sein könnte. Dann habe ich im Internet recherchiert. Tatsächlich sehen viele Menschen hier den Zusammenhang mit einem Ritter oder Edelmann, der in der Sage vorkommen soll, und glauben daher, es müsste jemand mit einem Adelstitel sein. Ebenso könnte auch eine Adelsfrau in Frage kommen?“
„Du hast doch nicht wirklich ein Frauenproblem damit, oder worauf willst du hinaus?“, fragt Léon, weil er spürt dass mehr hinter ihrer Überlegung steckt.
„Betrachte die Sage aus der Perspektive einer fremden Person, die tatsächlich an die Sage glaubt“, regt Mira Léon zum Denken an.
„Du meinst Gerda Franke glaubt, sie kann Vineta erlösen?“, will Léon nun wissen.
„Warum nicht?“, antwortet sie mit gefrorenem Blick.
„Und bringt deshalb Leute um?“
„Vielleicht zu gewagt, das gebe ich zu. Sie ist alt und verwirrt, aber morden wegen einer Sage?“, kann Mira auch nicht glauben.
„Jetzt ist sie alt, aber nicht zum Zeitpunkt der Morde, die sind schon über ein Jahrzehnt her. Außerdem weiß sie durch ihren Mann mehr über die Sage, als jemand anderes auf dieser Welt“, verbiegt Léon seine Gedanken.
„Vielleicht fühlt sie sich auserwählt. Mörder sind nun mal verrückt, sonst würden sie nicht morden“, steigt Mira in den Gedanken wieder ein.
„Alles gewagte Theorie. Wo sind die Beweise? Wo ist das Motiv?“, stellt Léon die ernüchternden Fragen und fragt sich nun, ob Gerda von Bremen wirklich auf legalem Wege an das Logbuch der Godewind gekommen ist.
„Das Motiv ist immer älter als die Tat selbst, manchmal viel älter, denn es braucht Zeit, Mordgedanken zu schmieden“, ergänzt Mira die Bedenken mit ihrer kriminalistischen Fantasie.
„Frauen sind zum Töten zu schwach“, behauptet Léon.
„Du glaubst Frauen können das nicht! Das Gegenteil ist der Fall. Nichts im Leben ist gefährlicher als eine enttäuschte, verbitterte Frau, die um ihr Familienerbe gebracht wurde“, erklärt Mira schließlich und schmunzelt siegreich über diese einleuchtende Begründung.
„Möglich ist es schon“, erinnert sich Léon, „denn mit ihren Hunden geht Gerda Franke nicht gerade zimperlich um“, überdenkt Léon das Gesagte, „aber vielleicht steckt noch mehr dahinter. Zu viele Dinge passieren. Zu viel ist ungeklärt. Eine Karte steckte versteckt im ‚Tiefersee’, dafür wird gemordet, es geht nicht allein um die Legende, wer weiß, was uns auf der Ostsee erwartet“, sagt Léon besorgt und blickt auf das Wasser. „Schau hin, wie leicht sich gewohnte Dinge ändern können, wenn man nur genauer hinsieht.“
Léon fordert Mira auf, die tiefschwarze Wasseroberfläche zu beobachten, wie sie langsam erstarrt und sich in eine silberne Spiegelfläche verwandelt. Sie schaut auf das Wasser. Ihre Augen werden größer und schließlich bringt sie ein, „Wow“, hervor. Fasziniert von den abertausenden Sternen, die sich in dem See spiegeln. Immer mehr glitzernde Punkte tauchen in der Tiefe auf, bis das perfekte Spiegelbild des Wassers sich mit dem Sternenhimmel am Horizont zu einem Bild verbindet. Als die Yacht umgeben von Sternen im All zu stehen scheint, zaubert der fantastische Anblick ihr das Lächeln eines Kindes ins Gesicht. Es dauert eine Weile, bis sie sich von diesem Bann lösen kann und wieder zu reden beginnt.
„Vorhin, als du geschlafen hast, habe ich eine Veröffentlichung gelesen. Darin glaubt der Autor, Dr. Nöbius, dass eine sehr alte Karte über das nördliche Reich der Sachsen existiert. In den Kommentaren zu diesem Artikel heißt es, dass es mit dieser Karte die Suche nach der versunkenen Stadt nicht mehr geben würde.“
„Dann kann es sich nicht um die handeln, die ich gefunden habe. Vineta ist darauf nicht eingetragen.“
„Der Forscher behauptet, sie wurde aus dem Kloster von Hiddensee entwendet“, erzählt Mira, ohne den Blick aus dem Sternensee zu nehmen.
„Dann müssten doch viele Leute nach der Karte suchen?“, schreckt Léon auf.
„Zu lange her. Ihr Verlust wurde erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts entdeckt. Inzwischen gibt es nur noch die Mauerreste des Klosters.“
„Was hast du noch erfahren?“, drängt er sie weiter.
„In den Verlagsarchiven von Gelo wurde dieses Thema immer wieder bearbeitet. Immer von unterschiedlichen Leuten und zu unterschiedlichen Zeiten und das, obwohl es sich nur um eine Spekulation handelt. Erstaunlich ist auch, dass kein Experte je behauptet hat, die Karte gesehen zu haben. Da werden Abhandlungen über unbekannte Dinge geschrieben. Ist das nicht erstaunlich? Das ist so, als ob man über das Weltall schreibt, aber nur das Spiegelbild kennt.“
„Das heißt, ob man mit der Karte Vineta finden kann, wissen die Wissenschaftler nicht. Dann musst du das Puzzle zusammensetzen!“, fordert Léon sie auf.
„Wenn das so einfach wäre. Stell dir die Sterne im Wasser als Merkzettel für die Hinweise vor. Mal sind sie zusammengetragen, mal liegen sie zusammenhangslos da und manchmal wurden sie unter falschen Voraussetzungen zusammengefügt, wie Sterne, die nah beieinander sind, aber in Wirklichkeit Lichtjahre entfernt dahinter liegen“, erklärt Mira mit bildhaften Worten.
„Anders gesagt, es wird sehr lange dauern, die Hinweise richtig zu deuten“, versteht Léon und merkt wie Mira friert.
„Oder man hat Glück“, sagt sie und zieht Léon nach unten in ihre Koje.

Am nächsten Morgen herrschen ideale Verhältnisse, um den Mast zu stellen. In der geschützten Bucht ist nur wenig Wind zu spüren. Das Wasser ist immer noch spiegelglatt.
Léon löst die Verschnürungen und legt die Stahlwanten der Länge nach auf das Deck. Der Baum, der an dem Mast festgebunden war, wird von Flocke aus dem Weg geräumt. Dann heben alle gemeinsam den Mast aus der Aufnahme und schlagen ihn am Mastfuß an. Das laufende Gut wird klariert und der einarmige hydraulische Jüttbaum, welcher ein aufrechtes Dreieck bildet, wird eingeschekelt. Nun ist alles bereit. Léon fordert die Mannschaft auf, sich auf die Leinen zu konzentrieren. Er schaltet die Hydraulik ein und der Alumast richtet sich auf. Durch zwei Stützwanten gesichert, klappt der turmhohe Mast in die Senkrechte.
„Stinger, ist das Vorstag mit dem Bolzen gesichert?“ ruft Léon mit angespannter Stimme nach vorne.
„Ist drin!“ brüllt Stinger zurück.
Majestätisch steht der Mast auf dem Deck und Léon ist froh, dass er nicht mehr aufpassen muss, sich den Kopf zu stoßen.
„Das ist geschafft! Der Rest ist Routine. Noch die Elektrik anschließen, den Baum und die Segel anschlagen und schon sind wir für die Weiterfahrt bereit“, lächelt Léon, der überaus froh ist, dass die Prozedur so gut verlaufen ist.
„Vorher frühstücken wir noch!“, gibt Stinger eilig zurück.
Mira und Flocke nicken heftig, um Stingers Vorschlag mit Nachdruck einzufordern. Geschwind holt Mira die Teller aus dem Schrank und setzt das Wasser für den Kaffee auf.
Am Tisch vereint, erzählt Stinger Léon:
„Weiß du eigentlich, dass Duisburg uns zum Training eingeladen hat? Sie wollen sich auf die Deutsche vorbereiten und suchen einen Sparringspartner.“
„Stimmt, die sehen in euch den wahren Gegner und sie wollen wissen, wie fit ihr seid“, mischt sich Mira ein.
„Woher weißt du das?“, das fragt nicht Flocke, sondern Stinger, der ganz aufgebracht ist.
„Sie ist eine Spionin“, petzt Léon keck.
„Eine was?“, krächzt Stinger und schaut Mira erschrocken an.
„Sie ist Sharkis Schwester“, klärt ihn Léon auf.
„Das ist nicht wahr, oder?“, schluckt Stinger immer noch, lehnt sich dabei nach hinten, weil er den Unterschied zwischen Bruder und Schwester nicht begreifen will.
„Doch, es ist wahr. Wirfst du mich jetzt über Bord?“
„Darüber denke ich nach.“
„Entspann dich Stinger! Weder sie noch Sharki haben dir etwas getan.“
„Nein? Außer, dass dieser Muskelprotz uns schon seit fünf Jahren hindert, Deutscher Meister zu werden. Nicht zu vergessen, wie er im letzen Endspiel den Ball so geschickt aus dem Tor genommen hat, dass es selbst die Schiedsrichter nicht gesehen haben, oder sehen wollten. Das war nicht fair und hat uns um den Titel gebracht“, kocht Stinger.
„Sharki ist einfach fit, auch in diesen Dingen. Wir müssen einfach nur besser sein“, gibt sich Léon optimistisch, obwohl er selbst nicht glaubt, was er da gerade sagt.
Dann mischt sich Flocke ein. Er ist der Einzige am Tisch, der Sharki nur vom Hörensagen kennt. Und fragt Stinger, wie es sein kann, dass ein Spieler so viel besser sein kann als andere.
„Schon oft habe ich darüber nachgedacht“, beginnt Stinger zu erzählen. „Es liegt nicht nur an seiner größeren Muskelmasse. Auch nicht daran, dass er mehr Kraft und mehr Kondition hat als seine Gegner. Das sind wichtige Vorraussetzungen, aber bei ihm kommen noch andere Faktoren hinzu. Seine Reaktionsschnelligkeit und sein Ehrgeiz gehören ebenso dazu. Da Tauchball unter Wasser gespielt wird, werden diese Fähigkeiten unter Luftnot abverlangt. Wer länger unten bleiben kann, der hat einen Vorteil, und manchmal muss man auf den Schnorchel beißen, um ein Tor zu verhindern. Beim Tauchball kämpft man nicht nur gegen den Gegner, sondern auch immer gegen sich selbst, und darin ist Sharki Meister.“
Mira kommt mit aufgeklapptem Laptop an Deck.
„Hört sich wie ein Übermensch an, aber nicht wie mein Bruder. Kreativ ist er zum Beispiel nicht. Außerdem ist er bei weitem nicht so geschickt mit dem Ball wie Léon. Auch ist er im Antritt nicht so schnell wie Stinger. Sicher ist mein Bruder gut, aber ich glaube, ihr habt einfach zu viel Respekt vor ihm“, gibt Mira zu denken und starrt dabei wieder auf den Bildschirm.
Stinger schaut Mira an. Der Ärger steigt ihm ins Blut, weil sie viel redet und doch nichts weiß.
„Hast du überhaupt schon mal gegen deinen Bruder gekämpft? Ich meine so, dass er dich ernst genommen hat?“, blafft Stinger Mira an.
Sie klappt das Notebook wütend zu. Dann holt sie aus.
„Ich weiß, worauf du hinaus willst. Bei Mädchen halten sich alle Männer zurück. Aber du kannst mir glauben, dass ich mich schon mit meinem Bruder geprügelt habe, da wusstest du noch nicht, dass es Unterwasser Rugby gibt.“
Mit dem Wort ‚gibt’, fliegt ihr der Speichel im Bogen aus dem Mund. Stinger guckt wie ein ausgeschimpftes Zwergäffchen und putzt sich angeekelt den schleimigen Tropfen von der Wage.

Kapitel 13: Teil 4