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Kapitel 13 Teil 4

„Mein Bruder hat Bärenkräfte, und er ist dazu auch noch schnell. Er hat auch unglaublich viel Luft, aber Kampf-sporttechniken, wie es Léon gelernt hat, kennt er nicht. Léon spielt mit der Kraft des Gegners und er versteht es, viel besser als mein Bruder, das zu seinem Vorteil zu nutzen.“
Während Stinger klar wird, wovon sie redet, schaut Flocke zuerst Mira und dann Léon verständnislos an. 
„Was machst du?“
„Ich nutze die Energie der Bewegung und leite sie in eine andere Richtung. Oder besser gesagt, ich gehe ihr einfach aus dem Weg.“
„All die Jahre spielen wir zusammen und du sagst mir keinen Ton von solchen Tricks.“ Flocke ist enttäuscht.
„Wenn du den Spielern nicht nur auf den Hintern schauen würdest, dann hättest du es selbst bemerkt. Hast du dich nie gefragt, warum du bei Léon immer ins Leere greifst?“, frotzelt Mira. Jetzt ist sie in Fahrt.
Flocke versinkt in die Polster und denkt nach, sagt aber nichts dazu.
„Sharki ist wie ein Schraubstock, der braucht nichts umzulenken. Der weicht auch nicht aus. Der rammt einfach alle nieder. Ihm ist dabei völlig egal, ob jemand an ihm dran hängt oder nicht“, kommt Stinger auf das Thema zurück.
Mira nimmt den Kopf hoch. 
„Also was ist nun? Mit Duisburg zu raufen ist doch eine gute Gelegenheit, die ihr nutzen könnt!“
Stinger schaut zu Léon.
„Was meinst du?“
„Zu sehen, wie die beste Mannschaft Deutschlands trainiert, könnte uns weiterbringen.“
Mira zieht die Augenbraue hoch. 
„Was sie trainieren kann ich euch erzählen.
„Ihr Training geht über vier Stunden. Sie fangen mit Konditionsschwimmen an, dann folgen Technikübungen. Die üben zum Beispiel auch, wie ein Stürmer gegen zwei Verteidiger plus Torwart antritt.“
„Ah! Einer gegen drei. Das hört sich heftig an“, sagt Flocke ungläubig, der sich wieder gefangen hat und froh ist da nicht mitmachen zu müssen.
„Im Spiel ist das Realität“, pflichtet ihr Léon bei. 
„Daran habe ich als Trainer noch nicht gedacht.“
„Der Duisburger Trainer schon“, legt Mira den Daumen in die Wunde.
Stinger steigt das Blut in den Schädel. 
„Dass sie härter trainieren als andere ist nicht ihre stärkste Waffe. Sie locken mit der Anziehungskraft des Deutschen Meistertitels. Durch das Abo auf den Titel bekommen sie die besten Spieler aus ganz Deutschland. Wer Meister werden will, wechselt zu ihnen. Und die, die nur an den Titel denken, kann der Trainer im Training bis zum Erbrechen schinden. Das ist der wahre Grund. Deshalb können sie von keiner anderen Mannschaft geschlagen werden.“
„Das ist noch nicht alles“, ergänzt Léon frustriert das Drama. „Das Schlimmste ist, wenn ein guter Spieler aus unserer Mannschaft nach Duisburg geht. Als Foggi vor einem Monat nach Duisburg wechselte, wurden wir in einem Atemzug geschwächt und sie gestärkt.“
„Was soll die Krefelder Mannschaft dazu sagen, da sind gleich drei Spieler nach Duisburg gegangen. Aber …, auch wir haben eine starke Waffe“, betont Léon.
„Was denn für eine?“, glotzt Flocke neugierig. 
„Teamgeist“, antworte Léon.
Stinger grinst und legt seinen Mundwinkel freudig in Falten. Er beugt sich nach vorne und sagt:
„Stimmt, und darauf werden wir aufbauen. Den größten Trainingseffekt haben wir durch die Teilnahme an den Turnieren in Göteborg, Oslo, Kopenhagen, Helsinki und Tommerup bekommen. Wir haben diese Saison gegen die stärksten Mannschaften aus Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland gekämpft, und das hat uns zusammengeschweißt. Jetzt werden wir das Konditionstraining intensivieren, offensivere Taktik anwenden, völlig neue Spielzüge einüben und diese mit der Power-Offensive kombinieren. Und? Wird unsere kleine Spionin das ihrem Bruder petzen?“, fragt Stinger spitz.
„Es würde nichts ändern. Duisburg kann unmöglich mehr trainieren. Dass Berlin an zahlreichen Turnieren teilgenommen hat, ist kein Geheimnis. Schließlich habt ihr den VDST Pokal gewonnen. Was würde es Duisburg nützen, wenn sie diese ohnehin schon bekannte Tatsache, von mir erfahren. Aber ich kann dich beruhigen“, dabei schaut sie Stinger stechend an, „die Drei-Minuten-Power-Offensive werde ich aus einem Grunde nicht verraten, weil auch ich es nicht schlimm finden würde, wenn mein arroganter Bruder einen Dämpfer bekäme.“
Diese Worte überzeugen Stinger, nur machen sie Léon stutzig. Wollte sie ihn nur dazu bringen, gegen seinen Bruder anzutreten, um ihm was zu beweisen? Er nimmt seine Tasse in die Hand und schluckt den Gedanken mit dem heißen Getränk runter. Entschlossen steht er auf, um die Diskussion zu beenden.
Schließlich kommen alle an Deck. Léon stellt sich hinter das Steuerrad, Flocke und Stinger warten auf die Kommandos.
„Alle Segel klar zum setzen!“
„Segel sind klar“ antwortet Flocke, der das Großfall um die Winsch gelegt hat.
„Was soll ich tun?“, fragt Mira, da sie als Frau auf keinen Fall ausgeschlossen werden will. 
„Du holst den Anker hoch!“, antwortet ihr Léon.
Léon wendet sich wieder an Flocke.
„Groß setzen!“, befiehlt Léon.
Flocke beginnt an der Winsch zu kurbeln und das Hauptsegel fährt in die Höhe. 
„Fall durchsetzen!“, sagt Léon im Kommandoton.
Das Großfall bekommt Spannung, beginnt zu knallen und zu knirschen. Mit einem quälenden Geräusch kurbelt Flocke Spannung auf die Leine. 
„Anker lichten!“, ruft Léon nach vorne. 
Mira startet die Ankerwinsch. Es beginnt zu rattern. Kettengerassel ist zu hören, dann ein dumpfes Poltern.
„Anker ist oben“, gibt sie nach hinten.
„Großschot dicht holen!“, ruft Léon Stinger das Kommando zu.
Gemächlich fällt der Bug nach Lee ab, und die Bird of Prey neigt sich zur Seite. Reflexartig versucht Mira Halt zu finden, als sich das Schiff auf die Seite legt. Wind füllt das Großsegel, und die Bird of Prey nimmt Fahrt auf. Unter Segel bewegt sich das Schiff für Mira wie von Geisterhand, während Flocke und Stinger sich wie Kinder freuen, dass sie sich endlich mit der Windkraft fortbewegen.
„Gut gemacht und jetzt Genoasegel setzen!“, kündigt Léon den Befehl an. 
„Fock klar zum setzen!“, befiehlt Léon, dabei senkt er den Kiel auf halbe Tiefe ab. 
„Fock ist klar zum setzen“, gibt Flocke zurück, der die Leine für das Rollreff bedient.
„Ist klar“, hört Léon Stinger sagen. Stinger legt die Genoaschot über die Zweigangwinsch und wartet auf das nächste Kommando.
„Raus mit dem Lappen!“, ruft Léon mit innerlicher Freude.
Damit meint Léon die Fock heißen, was selbst Mira sofort verstanden hat. Das Segel entfaltet seine volle Größe, und die Bird of Prey nimmt Fahrt auf. Das riesige Tuch fängt den Wind ein und alle an Bord spüren, wie sie mit sanfter Gewalt über die Wellen getragen werden.
„Wir sind noch in der Abdeckung der Bäume. Aufgepasst, gleich kommt die Brise!“, warnt Léon die Crew.
Das Rauschen der Bugwelle dringt zur Mannschaft wie eine Belohnung. Und wieder wird die Bird of Prey von einer zweiten Böe erfasst. Das Schiff legt sich auf die Seite. Die Yacht wird schneller, jagt über das Wasser wie ein Pferd, das vom Trab in den Galopp übergeht. Stinger findet es so stark, das er ein, „Juhu …“, nicht zurückhalten kann. Mira, Flocke und Léon schauen Stinger verständnisvoll an und beginnen glücklich zu lachen. Am Ende der Bucht weitet sich die Wasserfläche und der große Jezioro See wird in seiner ganzen Ausdehnung sichtbar.
Léon übergibt das Ruder Flocke und setzt sich auf die Luvseite des Schiffes. 
„Achte auf Stellnetze!“, ruft Léon Flocke zu.
„Geht klar“, antwortet dieser und überlegt wie die wohl aussehen könnten.
Dann nimmt er das Marineglas in die Hand, um nach den Netzen Ausschau zu halten. Er stellt sich vor, wie es sein muss, mit einem Kielschiff unter Segel in ein Fischernetz zu fahren. Zusätzlich bittet er Mira, am Bug Ausschau zu halten. Im Bann des Segelns nimmt sie die Biete von Flocke ohne Murren hin. Daraufhin arbeitet sie sich über das krängende Deck des Schiffes. Sie setzt sich auf die Bugspitze, klammert sich an das Vorstag und schaltet ihren MP3 Player ein. Mit dem Sound in den Ohren, glaubt sie über das Wasser zu fliegen. Léon, der nun dicht bei Flocke am Steuerstand steht, stellt fest, dass ihre Seekarte hier endet und sie nun ohne weiterfahren müssen. 
„Netze voraus!“, brüllt Mira und reißt sich den Kopfhörer aus dem rechten Ohr raus.
Léon kann nichts erkennen. Deshalb hangelt er sich zur Bugspitze, um besser sehen zu können. 
„Wo?“, fragt Léon nervös.
„Direkt voraus!“ 
Sie zeigt Léon mit dem ausgestreckten Arm die Richtung.
„Jetzt sehe ich sie. Nur, wo ist der Anfang und wo ist das Ende?“, fragt sich Léon aufgeregt.
„Da können wir durchfahren“, ruft Stinger aus dem Cockpit.
„Durchfahren? Ist der wahnsinnig?“, denkt Léon laut.
Léon krabbelt wieder nach hinten, damit er das Manöver einleiten kann.
„Siehst du die Netze nicht?“, brüllt Léon Stinger an.
„Oh“, sagt Stinger kleinlaut, als er sieht, wie viele davon im Weg stehen.
„Entweder fahren wir eine Wende, oder wir müssen einen Zick Zack Kurs fahren“, antwortet Flocke.
Während die Netze schnell näher kommen, sagt Léon mit ruhiger, aber konzentrierter Stimme: 
„Ich hoffe nur, dass die Netze unter Wasser nicht verbunden sind“, 
„Da ist gar kein Durchkommen, das sieht nur so aus!“, ruft Mira panisch.
„Wir machen sofort eine Wende!“, ordnet Léon an. 
Hektisch übernimmt Léon das Ruder. Mira bekommt Angst und krabbelt so schnell sie kann nach achtern. 
„Hol an die Schoten!“, ruft Léon.
Flocke holt das Groß dicht und Stinger die Genoa. 
„Klar zum Wenden!“
„Fock ist klar“, meldet Stinger zurück. 
„Ree! – Pause - Über die Fock!“
Fünf Meter vor dem Netz dreht die Bird of Prey durch den Wind um 120° nach Westen, Stinger stürzt auf die gegenüberliegende Seite und holt das flatternde Segel wieder dicht. Mira hält den Atem an. 
„Das war knapp“, entspannt sie ihre Lunge. 
„Jetzt wissen wir, wie Stellnetze aussehen. Eine unscheinbare Barriere, die nur durch Stöcke im Wasser gekennzeichnet sind“, murmelt Flocke, um sich zu beruhigen.
Ich möchte nicht wissen, wie viele Schiffe in der Saison da reinrauschen“, überlegt Léon gedankenvoll. 
„Oder, sie haben eine Karte und wissen, wo sie lang fahren müssen“, glaubt Stinger, dem noch der Schreck in den Gliedern steckt.
Léon orientiert sich neu und erst nach einer Weile entdeckt er in der Ferne eine rote Fahrwassertonne. Auf der Höhe des Seezeichens ändert Léon den Kurs in Richtung Norden. Mit dem Auflösen des Frühnebels verschwindet auch die Verkrampftheit, und sorglos fahren sie an einer Unzahl von Fischernetzen vorbei, die an Pflöcken über dem ganzen See aufgespannt sind. Nur ein schwach betonnter Korridor wurde für die Schifffahrt freigelassen. Léon wird klar, dass man diese Passage niemals verlassen darf. Während die Stellnetze von beiden Seiten dicht an das Fahrwasser reichen, jagt die Yacht durch die Holzpflöcke, so als wenn es Tore wären.
„Zum Segeln ist der See nicht unbedingt geeignet“, stellt Léon nach einer Weile fest. 
„Nein, es kommt mir wie in dem Märchen vor, in dem man den Weg nicht verlassen darf“, brüllt Stinger gegen den Wind auf die andere Seite rüber.
„Anstatt Kinder gehen hier nur Schiffe verloren“, lacht Flocke. 
„Was soll uns das jetzt sagen?“, fragt Léon die Gruppe.
„Fahre nie ohne Karte in unbekannten Gewässern umher!“, dichtet Mira vorwurfsvoll. 
Die Fahrwassertonnen kommen in immer kürzeren Abständen und führen zum Ausgang des Sees. Kaum haben sie den See verlassen, stehen sie vor einer Wasserstraßenkreuzung mit fünf möglichen Richtungen. Zwei davon führen nach Norden. Léon hat schon befürchtet, dass es Alternativen geben könnte. Er muss nachdenken und lässt die Bird of Prey auf engstem Raum eine 180° Wende fahren. Aus der Ferne kommt ein polnisches Passagierschiff von Süden auf sie zu. 
„Das ist ein Zeichen“, spekuliert Léon. „Der Kaffeedampfer zeigt uns den Weg.“ 
Das Passagierschiff holt aus, fährt eine Kurve und biegt in den Wasserweg ein, der nach Nordost führt. 
„Hinterher!“, bestimmt Léon. 
Kurz darauf ist das Schiff außer Sicht und sie haben die polnischen Gewässer wieder für sich alleine. Die Oder wird breiter, bis das östliche Ufer ganz am Horizont verschwindet. Sie folgen den Fahrwassertonnen, die ihnen eine Kursänderung von 25° West vorgeben. Nach einigen Stunden erreichen sie ein riesiges Boddengewässer. Das Stettiner Haff ist um ein vielfaches größer als die Müritz. Auf der Ostseite ist das Land nicht mehr zu sehen. Eine Seemeile voraus erkennt Léon ein Boot der polnischen Grenzpolizei. Ein Beamter steht auf dem Vorschiff, und beobachtet die Bird of Prey mit einem Fernglas. Auch die Vier halten den Beamten im Auge, der eine Maschinenpistole über der Schulter trägt und plötzlich eine orangefarbene Leuchtkugel abfeuert. Léon überlegt, was das soll und weil kein anderes Schiff in Sichtweite ist, kommt er zu dem Schluss, dass nur sie gemeint sein können. Léon ahnt nichts Gutes und nimmt Kurs auf das Zollboot. Kurz davor, lässt er die Segel bergen. Sie bringen die Bird of Prey längsseits, und nachdem sie an dem Polizeiboot festgemacht haben, verlangen die Beamten sofort die Ausweise. Jeder reicht seinen Reisepass rüber, nur Flocke kann seinen nicht finden. Da dem Zollbeamten sein Personalausweis nicht reicht, beharren sie weiter auf dem Reisepass. Flocke sucht das ganze Schiff ab und findet den Pass schließlich in seinem Kulturbeutel. Anstatt die Freunde fahren zu lassen, kommen die Beamten an Bord, um nun das ganze Schiff zu durchsuchen. Über eine Stunde durchwühlt der Beamte das Schiff. Er will in jeden Schrank sehen und sogar das Bodenbrett der Bilge wird hochgenommen. Obwohl sie nichts finden, muss die Mannschaft dennoch zur Station an Land fahren. Keiner versteht, was das soll, und auf Fragen reagieren die Beamten nur mit Achselzucken. Um eine Flucht auszuschließen, wird die Yacht von dem Polizeiboot bis zum Land hin eskortiert. Bei starkem Schwell legt die Bird of Prey an einem rostigen Stahlsteg an und Léon befürchtet nun, dass sie alle eingesperrt werden. In der Beamtenstube werden sie von einer streng aussehenden Frau in Uniform mit zahlreichen Fragen konfrontiert. Wohin die Reise gehen soll, wie viele Leute an Bord sind, selbst den Grund der Reise will sie wissen. Während ihre Personalien per Telex überprüft werden, kann Mira vom Nachbartisch ein paar polnische Brocken aufschnappen und hört, dass eine historische Karte gesucht wird. 
Woher wissen die davon, denkt sich Mira und wird unruhig, weil sie Léon nichts mitteilen kann. Da die Zöllner nichts gefunden haben, lässt die Beamtin sie nach Rücksprache mit einem Vorgesetzten endlich weiterfahren. Drei Stunden sind verloren gegangen. Nun segeln sie in die 
Abenddämmerung hinein, bis sie einen kleinen Vereinshafen in Ueckermünde erreichen. Fest in der Box liegend, füllt Flocke vier Gläser mit Portwein, um damit den Stress mit dem polnischen Grenzschutz endgültig runterzuspülen. Léon möchte der Mannschaft weiteren Ärger ersparen und erkundigt sich bei dem Hafenmeister nach den Liegegebühren. Der freundliche Mann teilt ihm mit, dass die Bird of Prey das erste Schiff ist, das diese Saison hier fest macht, und deshalb brauchen sie nichts zu bezahlen. Léon kauft einen Satz Seekarten, bedankt sich für die gute Sitte des Vereins und geht wieder zurück an Bord. Währendessen hat Stinger einen Topf mit heißem Wasser und Nudeln auf den Herd gestellt. Mira nutzt die Zeit und sucht nach weiteren Hinweisen im Internet. Links führen sie auf die Webseite der katholischen Gemeinde Bremens. Unter der Rubrik Domgeschichte erfährt sie, dass im Jahr 1066 der Erzbischof Adalbert von Bremen einem gewissen Adam von Bremen den Auftrag erteilt hatte, die Hamburger Kirchengeschichte aufzuschreiben. Der Domlehrer Adam von Bremen fertigte eine Niederschrift an, welche auch eine Karte mit dem Namen Mappa Ordica enthielt. Mira vermutet, dass man ihn deshalb als den ersten deutschen Geographen anerkennt. Auch hat er eine Beschreibung über Norddeutschland hinterlassen. Sein Bericht lieferte die ersten Hinweise für die Existenz einer großen Handelsstadt an der Ostseeküste, deren geographische Lage auf der Karte angegeben sein soll. Léon kommt zu ihr in die Kajüte. Ihm fällt sofort das Wappen neben dem Artikel auf und beginnt mit ihr zusammen stumm zu lesen. Dann verlässt er die Kajüte, steigt auf das Deck, öffnet mit vier Schrauben den Rollenbeschlag vom Ende des Baums, holt den Messingköcher heraus und bringt ihn in ihre Kajüte. Vorsichtig zieht er das Leinentuch heraus. 
„Diese Karte erfasst die Küstenregion der Sachsen um das Jahr 1100 und scheint der Schlüssel zu Vineta zu sein“, erklärt Léon.
Mira schaut fasziniert auf die Verzierungen der Karte. Sie beginnt die Merkmale mit den Informationen zu vergleichen und beide stellen die Echtheit anhand des Wappens von Adam von Bremen fest. 
„Das ist die Karte, von der du mir im Wald erzählt hast? Es ist die Mappa Ordica.“
„Ja, nur da wusste ich noch nicht, dass sie die erste Karte ist, die über Sachsen erstellt wurde und deshalb von hoher historischer Bedeutung ist.“ 
„Ich habe aus Spaß versucht, ihren Wert zu ermitteln. Unter den Forschern gilt sie als nicht real. Man vermutet nur, dass Adam von Bremen damit gearbeitet hat. Da aber seit dem Verschwinden niemand mehr die Mappa Ordica gesehen hat, gibt es noch nicht einmal einen Beweis, dass sie noch existiert.“ Miras Blick trübt sich. „Wegen dieser Karte wurden Menschen auf brutale Art und Weise umgebracht, und jetzt sucht die polnische Polizei danach.“
„Komisch, all das Leid für ein Stück Leinenpapier, auf dem nichts zu erkennen ist.
Auch Mira kann auf der Karte die Stadt Vineta nicht entdecken. Sie grübeln, bis sie müde werden. Erschöpft von den letzten Tagen kriechen sie unter ihre Decke. Nichts stört sie, und beide können diesmal tief und fest durchschlafen. Noch unschlüssig und die Wärme des Bettes kostend, wacht Léon am späten Vormittag auf. Die Kajüte wird schon vom weichen Sonnenlicht geflutet, da sieht er Mira an. Still liegt sie da. Ihr dunkles Haar schimmert auf dem blauen Kissen. Ihr Schlaf ist Léon heilig und so schlüpft er leise aus dem Bett. Ausgeruht und voller Tatendrang erfrischt er sich unter der Dusche und besorgt beim Bäcker im Ort warme Brötchen. Als er wiederkommt zaubert der duftende Geruch Mira ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie schlägt ihre verträumten Augen auf und streift die Decke von ihrem Körper. Mit ihr wacht auch Stinger auf. Er richtet sich auf und stößt sich seinen Schädel an der Deckenkante. Er spürt, wie seine untätigen Knochen nach Bewegung lechzen und schlägt Léon einen Waldlauf vor. Schnell sind Stinger und Léon in die sportliche Kleidung geschlüpft. Sie rennen über die Deichkrone am Wasser entlang. Für beide ist es ein wohltuendes Gefühl sich zu bewegen.
„Wie muss das sein, wenn man erst nach Wochen wieder festen Boden unter den Füßen hat?“, stellt sich Stinger die Frage.
Léon ist mit seiner Atmung beschäftigt und sagt nichts dazu. Als sie vom Duschen zurückkommen, hat Flocke das Frühstück mit Eiern, Kaffee mit geschäumter Milch und frisch gepresstem Orangensaft fertig. Nur Mira räkelt sich immer noch im Bett. Sie genießt es, die Blicke auf sich zu ziehen und erntet einen lüsternen Blick von Stinger. Eine Sekunde später fällt Flocke die Himbeermarmelade von seinem Brötchen. Léon lacht und erzählt von den Yachthäfen, die in Frage kommen. Er zeigt ihnen die geplante Route und auch der Zielhafen für heute ist auf den Seekarten schnell ausgemacht. Nach dem Frühstück geht Léon an Deck und bereitet das Segel zum Setzen vor. Das Ablegemanöver geht ohne Kommandos von der Hand. Jeder weiß inzwischen, was zu tun ist und draußen auf See sind die Segel schnell gesetzt. 
Eine Stunde später erkennt Léon den Kirchturm vom Dorf, schaut auf die neue Karte und bemerkt, dass sie nicht direkt auf den Glockenturm zuhalten dürfen, da eine vorgelagerte Landzunge die Einfahrt zum Hafen versperrt. 
Der Krumminer Yachthafen ist ein Naturhafen und hat anstatt einer Mole aus Stein eine natürliche Landzunge, um die Schiffe vor der See zu schützen. Beschaulich ist der grüne Hafen. Ein altes Segelschiff mit Gaffeln hat angelegt und auf dem Holzsteg haben dicke Kreuzspinnen von den Festmacherleinen zu den Bootsrümpfen ihre Netze gespannt und warten geduldig auf Beute. 

Da alle die offene Ostsee sehen möchten und deshalb auf die Nordseite von Usedom wandern wollen, wird die Bird of Prey in Windeseile festgemacht. Léon kontrolliert Leinen und Luken und macht sich mit den anderen auf den Weg. Am Dünenstrand angekommen flattert die Hose von Léon wild im Wind. In der Ferne sieht er ein Boot in den Fluten schaukeln. Leon spürt Miras Hände unter seiner Jacke und betrachtet ihr Gesicht, das vom kalten Wind gerötet ist. 
„Was war da eigentlich zwischen dir und Stinger?“, fragt Mira Léon.
„Was meinst du?“, Er schaut sie überrascht an.
„Na ja, so richtige Freunde seid ihr nicht gewesen“, bringt Mira raus.
„Unter Wasser sicher nicht“, stimmt ihr Léon zu.
„Und über Wasser?“
„Bevor wir losgefahren sind, kannte ich ihn kaum. Ich wusste nur, dass er über eine Bergungsplattform verfügt und unter Wasser ein Raubtier ist“, sagt Léon, um ihren Wissensdurst zu befriedigen. 
„Seid ihr nicht alle so?“, meint Mira nur dazu. 
„Nicht so extrem wie Stinger. Unter Wasser reißt er einem ohne zu zögern den Kopf ab. Spricht man ihn darauf an, kann er sich an nichts erinnern. Flocke ist da anders. Er spielt so, wie er ist. Von gutmütig relaxt bis zum unverrückbaren Verteidiger. So ist er auch im Leben. Er zeigt dir einfach, wo man bei ihm dran ist. Über wie unter Wasser.“

Als sie wieder im Hafen sind, trudeln auch Stinger und Flocke ein. Mira schnappt sich ihr Notebook vom Bett, um ihre Internetrecherche fortzusetzen. Da stellt Léon fest, dass ein Schlauch unter der Spüle undicht ist. Ein feiner Schnitt, aus dem Seewasser fließt. Er kann das Problem nicht sofort beheben. Er schließt daher nur das Seeventil und stellt die automatische Bilgepumpe an. Ungewöhnlich denkt Léon, da nichts in der Nähe einen so glatten Schnitt verursachen konnte. 
Stinger stellt eine Flasche Ballantines, Cola und Zitronen auf den Cockpittisch, holt sich ein Kissen an Deck und macht es sich gemütlich.
„Was müssen wir für morgen noch erledigen?“, fragt Flocke fröhlich. 
„Nur das Übliche. Wasser und Diesel auffüllen. Ach -und Tapeband besorgen.“
„Ist etwas zu reparieren?“, fragt Flocke erstaunt.
„Ja. Unter der Spüle ist ein Wasserschlauch undicht geworden, den will ich abdichten. Das dürfen wir auf keinen Fall vergessen“, meint Léon ernst.
„Was passiert dann?“, ruft Mira aus ihrer Koje.
„Dann läuft uns das Schiff voll Wasser und wir sinken. Aber mach dir keine Sorgen, das habe ich im Griff“, brüllt Léon durch den Niedergang nach unten.
„Was hast du vor?“, fragt Flocke Stinger und spielt dabei auf den Scotch an. 
„Ich weiß, für die Getränke an Bord bist du zuständig. Du hast aber das wichtigste Fest zum Feiern vergessen!“, neckt Stinger Flocke.
Flocke schaut Stinger irritiert und interessiert an.
„Das Bergfest! Das sollten wir jetzt feiern!“, bestimmt Stinger mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Gut, dass du mich daran erinnerst“, entschuldigt sich Flocke und erkennt, dass sie sich oft in vielen Dingen einig sind.
In kurzen Abständen werden Gläser gefüllt und geleert.
„Ein paar Tage an Bord der Bird of Prey und man kann sich gut vorstellen, wie es den großen Entdeckern Columbus, Magellan oder Alexander von Humboldt auf ihren Reisen ergangen ist“, meint Stinger großspurig.
„Das glaube ich kaum, dass du dir das wirklich vorstellen kannst. Wir sind nur auf Binnengewässern unterwegs gewesen. Lass mich raten. Der Sturm hat dich das Fürchten gelehrt“, fragt Flocke. 
„Dazu braucht es schon mehr, um mir das Fürchten beizubringen. Auf jeden Fall habe ich einen Einblick bekommen, was es bedeutet, bei einem Sturm auf einem Segelschiff zu sein“, gibt Stinger zu und lässt sich genussvoll mit einem Glas in die Polster sinken.
„Das kannst du öfter haben“, meint Léon und greift nach einer Zitronenscheibe und spielt mit den Eiswürfeln im Glas, was nach Glocken klingt. 
„Wie oft hast du einen Sturm auf dem Wasser erlebt?“, fragt Flocke. 
„Windstärke von acht bis neun habe ich mehrmals erlebt, aber das macht einer soliden Yacht mit Sturmbeseglung nichts aus“, antwortet Léon als erfahrener Skipper. 
„Der Crew schon!“, gibt Flocke zu Denken. 
„Ab Windstärke zehn, wenn die Wellen mehrere Meter hoch werden, wird es ungemütlich. Nach meiner Erfahrung ist nicht der Sturm das Gefährliche beim Segeln, sondern die Unachtsamkeit der Crew“, erzählt Léon und spürt, wie seine Blase zu drücken beginnt.
„Warum die Crew?“, will Mira wissen, als sie durch das laute Gerede für einen Augenblick den Niedergang hochkommt. 
Léon dreht sich zu ihr. 
„Die meisten Segler ertrinken, wenn sie überraschenderweise über Bord gehen.“
„Wie? Schlafen die mit offenen Augen und hüpfen dann von Bord?“, scherzt sie, weil sie es nicht versteht, wie jemand vom Schiff fallen kann.
Léon lacht. 
„Nein so nicht. Zum Beispiel, wenn sie betrunken von der Badeplattform pinkeln. Das ist eines der gefährlichsten Manöver.“
„Das habt ihr doch ständig gemacht“, stellt sie nüchtern fest.
„Nein, nicht während des Segelns, nur wenn wir mit Maschine unterwegs waren“, antwortet Léon.
„Wo ist der Unterschied?“
„Unter Maschine kann ich sofort anhalten, zurückfahren und denjenigen rausfischen. Wenn wir unter Segel sind, kann ich nicht einfach anhalten. Ich muss eine Kuhwende fahren, und das kann eine Weile dauern. Oft kommt bei dieses Manöver die Hilfe dann doch zu spät.“
„Ist dir das schon mal passiert?“, fragt Flocke.
„Nein, Gott sei Dank noch nicht, aber beinahe. Auf dem Ausbildungstörn vor den Kanarischen Inseln hat uns eine Böe unverhofft erwischt. Das Schiff wurde auf die Seite geworfen. Die Freundin des Skippers wäre fast aus dem Cockpit gefallen, wenn ich sie nicht im letzten Moment an ihrer Jacke festgehalten hätte. Als sich das Schiff wieder aufrichtete, kam der Baum mit Schwung rüber. Das Großsegel ist dabei in Fetzen gegangen. Da war kein Sturm, sondern nur Unachtsamkeit am Werk. Der Skipper hat einfach nicht damit gerechnet, dass der Düseneffekt zwischen den Inseln so stark sein kann.“
Stinger dreht seinen Kopf von einer Seite auf die andere.
„Wo ist Mira?“
„Sie sitzt wieder vor ihrem Notebook, unsere Forscherin kann den Suff nicht leiden“, antwortet Flocke gelangweilt, der schon betrunken ist.
Eine Brise streicht über das Deck. Mira kommt den Niedergang hoch und setzt sich zu Léon. Sie hat für Flocke ein Glas Wasser mit einer Kopfschmerztablette darin und ihren Schlafsack mitgebracht. Sie deckt sich und Léon zu. Stinger und Flocke beobachten Mira dabei, wie sie sich an Léon kuschelt, ziehen es dann vor, unter Deck im Salon weiter zu saufen. Im Hafen herrscht Stille und niemand außer ihnen scheint da zu sein. Als am anderen Ufer die Sonne hinter den Bäumen verschwindet, fragt Mira Léon:
„Warum liegen hier so wenige Schiffe?“
„Für diesen Abstecher nehmen sich die meisten Skipper keine Zeit. Außerdem hat die Segelsaison noch nicht richtig angefangen.“
„Aber du nimmst den Umweg in Kauf?“
„Mm…“, summt Léon und drückt sie fester an sich heran. „Warum bist du Forscherin geworden?“
„Ich liebe extreme Situationen. Ich finde es aufregend, wenn jemand mit Dingen konfrontiert wird, mit denen er nicht gerechnet hat“, sagt sie selbstsicher.
„Hilfst du manchmal ein wenig nach?“, bringt Léon die Worte nur mit Schwierigkeiten hervor und denkt dabei an ihre exhibitionistische Ader. 
„Wie meinst du das?“, fragt Mira und richtet sich dabei auf.
„Es macht dir Spaß zu schockieren“, redet Léon holprig weiter, während er mit dem Glasrand spielt. „Dir ist die Welt zu langweilig und um sie spannender zu gestalten, hilfst du ein wenig nach.“ 
„Ein wenig Spaß muss schon sein“, meint Mira, ohne genau zu wissen, worauf er hinaus will.
„Für dich mag das amüsant sein“, sagt Léon, „aber nicht jeder kommt damit klar.“
„Ich hätte dir von Anfang an sagen sollen, dass Sharki mein Bruder ist“, sagt sie daraufhin, ohne zu wissen, was Léon wirklich meinte.
„Wollen wir schlafen gehen?“, fragt Léon und denkt sich im Stillen, dass es viel besser ist, sie in ihrem Gewissen rumpopeln zu lassen. 
Er stellt sein Glas auf den Cockpittisch und geht wankend mit ihr nach unten.

 

Kapitel 14: Des Rätsels Lösung