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Kapitel 13 Teil 1

Die Abmachung

 

Am Dienstag fährt Léon zum Reiterhof in der Hoffnung dort Mira zu finden. Er hat noch keine Ahnung, wie er ihr das mit der Suche nach Vineta beibringen soll. Tagelang hat er sich nicht bei ihr gemeldet, er ist nervös, auch plagt ihn das schlechte Gewissen. Bevor er den Stall betritt, atmet er tief durch und saugt den Stallgeruch in seine Lungen. Er findet Mira, die in gebückter Haltung die verklumpte Erde aus Diegos Vorderhuf kratzt. Ihre bläulich schimmernden Haare verdecken ihr Gesicht und Léon hat keine Möglichkeit ihre Stimmung zu erkennen. Unbemerkt kann er näher kommen, nur Diego schwenkt den Kopf in Richtung seiner Schritte. Freudig brummelnd, versucht der Hengst den Huf von Miras Oberschenkel zu nehmen, da packt Mira kräftig zu und macht Diego klar, wer hier das Sagen hat. Aufgrund der Situation ist es Léon recht, dass Mira ihn nicht kommen sieht, so hat er die Chance, das Gespräch zu beginnen.
„Hat sich Diego eingewöhnt?“, fragt er und ist gespannt auf ihre Reaktion.
Mira dreht den Kopf und ist überrascht ihn hier zu sehen. Ohne den Huf vom Oberschenkel zu nehmen, schaut sie ihn kritisch an. Sie nimmt Diegos Freude wahr und es entgeht ihr nicht, dass Léon das Kopfnicken des Pferdes zu nutzen versucht, um sie freundlich zu stimmen.
„Diego hat sich eingewöhnt. Nur, ob ich mich an dich gewöhnen kann, ist hier die Frage!“, antwortet sie bissig.
„Es tut mir leid, dass ich mich die letzten Tage nicht gemeldet habe“, und Léon hofft, dass ihr die Entschuldigung reicht.
Als wenn sie seine Gedanken lesen könnte, erwidert sie:
„Das reicht mir nicht! Warum hast du dein Handy abgestellt?“
„Für Elektronik ist es im Schwimmbad zu feucht“, pariert Léon und versucht so davon zu kommen.
„Ach, hör auf damit!“, faucht Mira zurück, da sie Ausreden nicht leiden kann. Ihr Gesichtsausdruck ändert sich schlagartig und schalkhaft fordert sie Léon auf:
„Ich bin der Meinung, ein wenig Strafe hast du verdient und deshalb wirst du jetzt mitspielen!“
Léon, der keine Chance sieht abzulehnen, fragt überrascht:
„Mitspielen? Wobei?“
„Das Spiel heißt ‚Fang mich’.“
„Kein Problem, dich kriege ich schnell“, meint Léon ruhig aber mit überheblicher Stimme.
„Mich sollst du nicht fangen, Diego wird dich fangen“, klärt sie ihn auf.
„Was meinst du damit?“
„Ganz einfach, du läufst weg und Diego jagt dich über die Weide“, erklärt sie ihm mit einem schelmischen Grinsen.
„Das ist doch nicht dein Ernst?“, Léon schaut sie noch verblüffter an als zuvor.
„Na und ob!“, sie genießt seine Hilflosigkeit.
„Und was machst du dabei?“, fragt er betreten.
„Ich schaue mir das Spektakel an“, antwortet Mira und ihre grünen Augen beginnen dämonisch zu leuchten.
Bevor Léon noch etwas sagen kann, nimmt sie den Vorderhuf von ihrem Schenkel und richtet sich auf.
„Komm mit!“, befiehlt sie.
Daraufhin führt sie den Araber ins Freie, stellt sich auf ihre Zehenspitzen, hängt sich an das Ohr des Hengstes und flüstert ihm das Kommando zu. Dann zeigt sie mit der ausgestreckten Hand auf Léon. Diego dreht den Kopf, schnauft und nimmt Léon ins Visier. Sie nimmt das Halfter ab, als wenn sie einen bissigen Köter von der Leine lässt. Aus dem Stand macht Diego einen Satz in den Galopp und saust auf Léon zu, der sich vor der Gattertür in Sicherheit bringen will. Er kann im letzten Augenblick zur Seite hechten. Wieder rennt der vierjährige Hengst auf ihn zu. Léon flüchtet über die Weide. Als Diego näher kommt, hat er keine Chance auszuweichen. Das Tier wirft ihn im vollen Galopp mit seiner feuchten Nase zu Boden. Benommen steht Léon wieder auf.
„Nettes Spiel“, keucht er fassungslos.
„Jetzt bist du an der Reihe! Versuch Diego zu fangen! Es reicht, wenn du ihn irgendwo berührst“, bestimmt Mira ohne ihm eine Pause zu gönnen.
Léon läuft los und Diego hat sichtlich Freude daran, vor ihm wegzulaufen. Genauso wie es vorher Léon gemacht hatte, täuscht das Tier die Richtung an und schlägt Haken. Da die Weide aber nicht rechwinklig eingezäunt ist, sondern spitz in den Ecken zuläuft, gelingt es Léon, Diego in die Ecke zu treiben. Wie bei einem Stierkampf stehen sich beide gegenüber. Diego schnauft, scharrt nervös mit den Hufen. Mit ausgestreckten Armen rennt Léon auf ihn zu, doch in dem Moment, in dem das Pferd einen Fluchtweg gefunden hat, stürmt es los. Nur knapp kann Léon Diego am Schenkel berühren, der Hengst bleibt sofort stehen, er weiß, wie er spielen muss.
Jetzt geht Léon zu Diego und flüstert ihm sein Kommando ins Ohr und zeigt dabei auf Mira. Diego startet und Mira rennt. Auch sie schlägt einige Haken, wird aber von Diego in die spitze Ecke getrieben. Beide stehen sich so gegenüber wie vorher Diego und Léon. Nun will Diego Mira fangen und galoppiert los, während sich Léon köstlich über diese Situation amüsiert. Doch anstatt vor Diego davon zu rennen, läuft sie direkt auf ihn zu und wirft sich kurz vor dem Zusammenprall zu Boden. Diego macht einen riesigen Satz und springt im hohen Bogen über sie hinweg. Das Tier erkennt die Situation, weiß, dass seine Herrin mit diesem Manöver entkommen kann und bewegt sich nun langsam auf sie zu. Wieder treibt Diego Mira in die spitze Ecke. Mit tief gesenktem Kopf und gespreizten Beinen versucht der Hengst ihr die Fluchtmöglichkeit durch seine Beine zu nehmen. Sie täuscht an, Diego zuckt. Dann nimmt sie Anlauf, macht bei der engsten Stelle eine Judorolle und entkommt schließlich wieder aus dieser aussichtlosen Situation. Erst als Mira sich endlich von Diego fangen lässt, kehrt wieder Ruhe auf der Weide ein.
„Möchtest du noch mal oder wollen wir ein Stück mit Diego spazieren gehen?“, fragt Mira mit einem Lächeln.
„Lass uns spazieren gehen“, lacht Léon. „Ich muss sowieso mit dir reden! Was hältst du davon, wenn wir mit ein paar Freunden Segeln gehen?“
Hört sich gut an, wenn da nicht die Freunde wären, denkt sie.
„Wo soll es hingehen?“
„Nach Rügen!“
„Wo liegt das?“
„Rügen liegt in der Nähe von Usedom!“
„Aha, und wo liegt das?“, fragt Mira genervt.
„Usedom ist eine Halbinsel, die an der polnischen Grenze bei Swinemünde beginnt und sich an der Ostsee bis zum Greifswalder Bodden entlang zieht. Die Insel Rügen müsste dir etwas sagen! Vor zwei Jahren bist du mit der Nationalmannschaft der Damen nach Göteborg gefahren. Wenn mich nicht alles täuscht, dann habt ihr die Nachtfähre von Saßnitz nach Trelleborg genommen.“
Mira ist überrascht, wie gut Léon informiert ist und schaut ihn mit großen Augen an.
„Saßnitz liegt auf Rügen.“
„Da willst du hin?“ fragt Mira erstaunt und erinnert sich.
„Nicht direkt. Wir werden auf den Binnengewässern segeln und ab dem Greifswalder Bodden steht uns die Ostsee zur Verfügung. Von hier aus bis zur Mündung der Peene gibt es einen Wasserwanderweg. Dieser führt durch einsame Seen, und wir werden die Havel und die Oder befahren.“
„Hört sich wie ein Abenteuer an“, Miras Augen leuchten vor Begeisterung.
„Wann soll es losgehen?“
„Für die Fahrt muss der Mast gelegen werden, deshalb sollten wir Freitag früh die Bird of Prey seeklar machen.“
„Was, jetzt am Wochenende schon? Und warum den Mast legen, wir wollen doch segeln?“
„Mit stehendem Mast kommen wir nicht durch die Brücken und bis zum Stettiner Haff gibt es einige!“
„Hm. Das heißt, wir werden die ersten Tage mit Motor fahren und erst am Ende wird gesegelt?“
„Genauso ist es!“
„Ich muss mich schnell um einen Stallburschen kümmern, der Diego für diese Zeit versorgen wird“, sagt Mira, und hat sich in diesem Moment entschlossen mitzukommen.
„Super!“
Léon verabschiedet sich von ihr mit einem freundschaftlichen Kuss.

Drei Tage später trifft Léon mit Mira die letzten Vorbereitungen für die lange Reise. Er füllt mit einem Wasserschlauch den Tank und gerade als dieser überläuft und das überschüssige Wasser die Bordwand hinunter plätschert, kommt Flocke trillernd mit zwei voll bepackten Bollerwagen den Steg entlang gepoltert.
„Hallo Leute, hier ist ja richtig Betrieb“, ruft er beim Näherkommen.
„Dann musst du mal zum Baumblütenfest kommen, da sieht das hier noch ganz anders aus“, ruft Léon zurück.
„Was für ein Fest?“, fragt Mira interessiert.
„Ende April feiern die Bauern jedes Jahr, dass der Winter zu Ende ist und dass sie wieder Geld verdienen können. Sie errichten Stände und verkaufen Obstweine. Die Buden ziehen sich dann vom Berg bis hinunter zur Insel Werder“, erzählt Léon während er den Cockpittisch aufbaut.
„Ich sehe, du kennst dich aus“, kommentiert Flocke, als er an Bord kommt.
„Was erwartest du von einem Skipper?“, entgegnet Léon lächelnd.
„Das kann ich dir sagen. Nicht nur über Feste reden, sondern welche feiern. Den heimischen Obstwein habe ich dazu schon mitgebracht“, sagt Flocke und leckt sich mit seiner Zunge die Lippen.
„Ich sehe schon. Du überlässt nichts dem Zufall. Nun fahren wir aber in die Einöde, wo überhaupt nichts los ist und ich hoffe, du kommst damit klar?“
„Für die kommenden Tage ist das sicherlich richtig, aber an der Ostseeküste…“, schweift Flocke aus, wird aber von Léon unterbrochen.
„…du hast recht, aber lass uns jetzt dein Gepäck und die Getränke verstauen, bevor du uns jedes Fest von Rügen bis nach Flensburg beschreibst!“
Léons Handy klingelt, Stinger ist dran und Léon rechnet mit allem.
„Müssen wir dich wieder von einer Grenze abholen?“
„Ich stecke im Stau“, antwortet Stinger, „sind alle da?“
„Gerade ist Flocke angekommen und jetzt will Mira alles über Hafenfeste wissen!“
„Wann ist denn das Nächste?“, fragt Stinger neugierig.
„Jetzt fang du nicht auch noch an. Mach, dass du herkommst, sonst legen wir noch ohne dich ab!“, befiehlt Leon unwirsch.
„Bin schon unterwegs“, und legt auf.
„Die Klamotten habe ich verstaut, gibt es sonst noch was zu tun?“, erkundigt sich Flocke bei beiden.
„Im Moment nicht, den Einkauf für die Verpflegung hat Mira schon gestern erledigt. Sobald Stinger da ist, müssen wir nur noch die Tauchausrüstung verstauen und dann können wir ablegen.“
„Habt ihr den Wetterbericht gehört?“
„Nein, warum?“
„Ein Sturmtief zieht auf“, berichtet Flocke.
„Im Moment ist weit und breit nichts zu sehen“, bemerkt Mira.
„Bei Sonne sieht die Welt immer strahlend aus, aber einen Sturm auf einem Segelboot zu erleben ist nicht das größte Vergnügen“, erklärt Flocke.
„Ich werde uns morgen abend einen aktuellen Wetterbericht aus dem Internet holen“, sagt Léon, ohne sich jetzt darüber Sorgen zu machen.
„Du hast auch unterwegs Internet an Bord?“, mischt sich Flocke ein.
Dort, wo noch kein WLAN Netz vorhanden ist, kann ich eine Internetverbindung über GPRS- oder UMTS- Funk, herstellen“, erklärt Léon.
Mira ist begeistert.
„Ich kann unterwegs arbeiten?“
„Du kannst“, antwortet Léon, weil er weiß, wie wichtig das für sie ist.
„Das ist wieder typisch. Da wollen wir einmal im Leben der Zivilisation entfliehen und finden dann einen mobilen Breitband - Internetanschluss an Bord. Du bist nicht zufällig technikgeil?“, bemerkt Flocke spitz.
„Ohne Elektronik würden wir Landratten diesen Törn sicherlich nicht wagen“, erwidert Léon und sieht Flocke herausfordernd an.
„Wo bleibt Stinger? Wie beim Training hätte ich eine Strafe für Zuspätkommen ausmachen sollen, dann wäre er jetzt schon hier!“, jammert Léon.
„Dass bei euch diejenigen zahlen müssen, die zu spät kommen, ist schon eine harte Maßnahme! Aber hier verhält es sich doch anders, wir müssen doch keine Mannschaft einteilen“, stellt Mira fest.
„Daran sieht man, dass du wirklich keine Ahnung vom Segeln hast. Selbstverständlich wird hier die Mannschaft eingeteilt. Und, so wie es aussieht, wirst du der Smutje an Bord“, provoziert Flocke Mira.
„Ein was?“, fragt Mira verwundert.
„Smutje, oder Koch, in deinem Fall Küchenmädchen, das in der Kombüse hilft“, bemerkt Flocke mit Genugtuung.
„Ach sieh an, jetzt weiß ich auch, warum ich mitfahren soll. Ihr solltet es besser nicht zu weit treiben. Außerdem ist Stinger der Letzte und sicherlich besser geeignet für solche Aufgaben als ich“, giftet Mira zurück. Sie kann den Ärger über Flocke nicht verbergen.
„Na endlich!“, sagt Léon, als er Stinger über den Steg kommen sieht.
„Ziemlich große Tasche“, bemerkt Flocke.
„Immerhin kein Hartschalenkoffer, so wie ihn Mira mitgebracht hat!“, ergänzt Léon.
„He Leute, ich will mich doch nicht lächerlich machen!“, ruft Stinger zurück und versucht mit dunkler Sonnenbrille so cool wie möglich auszusehen.
„Das wird sich kaum vermeiden lassen, weil Mira dich gerade als Smutje eingeteilt hat“, lächelt Flocke ironisch.
„Daran sieht man, dass sie keine Ahnung vom Segeln hat und ich hoffe, dass du ihr wenigstens das schon erklärt hast. Léon ist Skipper, er teilt die Mannschaft ein und nicht ein Mädchen“, reagiert Stinger etwas pikiert.
„Quatsch nicht so viel und komm an Bord, wir müssen noch Rasmus besänftigen“, sagt Léon zu Stinger und versucht die Stänkerei abzuschwächen.
„Wen?“, fragt Mira überrascht.
„Den Gott des Windes“, erklärt Flocke überheblich.
„Jedes Mal bevor wir ablegen, bringen wir Rasmus ein Opfer dar, damit er für die Fahrt gnädig gestimmt ist und uns günstige Winde beschert.“
Um das symbolisch zu untermauern, schenkt er den heimischen Branntwein in vier kleine Gläser ein. Léon nimmt die Flasche in die Hand und kippt einen Schluck daraus über Bord. Mira sieht verwirrt zu. Erstens kann sie nicht glauben, dass jetzt schon getrunken wird. Zweitens mag sie es nicht, dass Lebensmittel einfach über Bord geschüttet werden, auch dann nicht, wenn es sich dabei um Alkohol handelt.
Flocke nimmt sein Glas in die Hand und fordert die anderen auf, es ihm gleich zu tun.
„Auf den Törn! Und dass wir immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben!“, spricht Flocke mit zufriedener Stimme, da er merkt, wie Mira in Wallung gerät.
Alle, bis auf sie, erheben ihr Glas, leeren es mit einem Schluck und verziehen ihr Gesicht zur Grimasse. Léon und Stinger stehen auf und fangen an, die schweren Taucherflaschen an Bord zu holen. Es dauert eine halbe Stunde bis alles unter Deck sicher verstaut ist. Endlich sind sie bereit zum Ablegen.
„Wenn du fertig bist, dann komm bitte nach oben!“, ruft Léon Flocke.
Eine Minute später steigt Flocke den Niedergang hoch. „Hier bin ich, was kann ich tun?“
„Hilf’ uns beim Ablegemanöver! Auf mein Zeichen wirfst du die Vorleine los!“, befiehlt Léon leise.
„Ay, Ay, Sir“, erwidert Flocke und legt die Hand an die Stirn. Léon dreht sich um und schluckt, weil er das „Ay, Ay Sir“ übertrieben findet. Léon geht zum Ruder und nimmt die Achterleine von der Steuerbordseite in die Hand, während die anderen auf das Kommando zum Ablegen warten.
„Vorleinen fieren“, ruft Léon nach vorne.
„Die Leinen feiern?“, wundert Mira sich.
„Wir sind hier nicht in Köln. Wir wollen keine Leinen feiern. Ich meinte damit, etwas Lose in die Leinen geben“, erklärt er ihr mit einem Schmunzeln im Gesicht.
„Aha, Lose in die Leine geben. Sag das doch gleich“, schmollt Mira, obwohl sie immer noch nichts verstanden hat. Sie hasst es, wenn Männer sie für dumm halten.
„Eine Kölnerin auf einem Segelschiff! Das kann ja heiter werden“, legt Flocke noch einen drauf und schüttelt den Kopf dabei.
Noch vor wenigen Tagen fand Mira Flocke sympathisch, aber in diesem Moment änderte sich das schlagartig. Langsam ahnt sie, worauf sie sich eingelassen hat. Eine Crew, bei der jeder besser sein will als der andere, hat ihr gerade noch zu ihrem Problem mit Léon gefehlt. Aber jetzt ist es zu spät. Die Bird of Prey hat abgelegt.
„Vorleinen los!“, befiehlt Léon wie ein Kommandant.
„Leinen sind los“, meldet Flocke zurück. Dabei dreht er sich um und macht einen Schritt in Richtung Heck.
„He, pass auf!“, kreischt Mira, „du hättest mich beinahe von Bord geschubst!“
„Unsinn, was stehst du auch so dicht hinter mir?“
Wie zwei Kampfhühner stehen sich Flocke und Mira mit rotem Kopf gegenüber, und es passt Flocke gar nicht, dass er in diesem Moment zu ihr hoch schauen muss.
„Leinen einholen und aufschießen“, ruft Léon mit dunkler und trockener Stimme und hofft, dass beide sich gleich auf dem See wieder beruhigen.
„Leinen Schießen?“, fragt Mira mit bösem Blick. Aber plötzlich hat sie keine Lust mehr auf Streit und möchte, dass sich die Situation entspannt. Schließlich fahren sie gemeinsam durch die Wildnis, da sollte man wenigstens heil aus dem Hafen kommen, denkt sie und versucht krampfhaft ein nettes Gesicht aufzulegen.
„Die Leinen - die Festmacherleinen - sollen wir aufschies-sen“, ruft Flocke genervt. Dabei hält er ihr die Leine vor die Nase, mit der er sie am liebsten an den Mast binden würde.
„Was bist du so sauer? Nur weil ich die Kommandos nicht verstehe“, antwortet sie zuckersüß.
Überrascht über die Veränderung in ihrer Stimme, taucht Flocke an ihrer Seite vorbei.
„Bist du sicher, dass du die richtigen Leute an Bord hast?“, fragt Stinger Léon besorgt.
„Absolut“, lacht Léon. „Eine harmonische Crew wäre doch langweilig. Komm, hol die Fender ein und in die Backskiste damit!“
Der Gedanke an seine Crew amüsiert ihn nicht wenig: Was kann sich zusammenbrauen, wenn man einen schwulen Zwerg, einen aggressiven Stürmer und Bergungstaucher und eine Emanze mit Doktortitel auf engsten Raum zusammenpfercht? Das ist nicht gerade die Seereise, die sich Léon immer gewünscht hat. Doch gibt es kein Zurück bei diesem Unternehmen.
Und - als wenn die Spannung an Bord nicht schon genug wäre, droht die Bird of Prey auch noch mit einem Fender am Dalben hängen zu bleiben. Léon brüllt und Stinger stürzt mit übertriebenem Eifer über das Deck, um ein Abreißen des Fenders zu verhindern. Zu spät, mit einem Gummi quälenden Geräusch presst sich das Schiff an dem Dalben vorbei. Der stabile Plastikball wird zur Flunder gequetscht. Dann treibt die Bird of Prey frei und Léon stellt das Ruder auf Hartsteuerbord. Er legt den Vorwärtsgang ein. Das Wasser beginnt am Heck zu schäumen, während sich die Yacht sanft nach Backbord schiebt.
Am Hafenausgang wird die Sicht frei. Die grünen Ufer sind noch in grauen Dunst getaucht, während die Sonne das Wasser mit tausenden Lichtpünktchen zum Glühen bringt. Auf dem Wasser kann Léon ein Anglerboot erkennen. Für die meisten Sportbootfahrer ist es noch zu früh und nur ein Reiher, der flach über das Wasser schwebt, ist über der weiten Landschaft zu sehen.
Nach 20 Minuten Fahrt erreichen sie die alte, aus der DDR Zeit stammende Baumgartenbrücke. Dahinter sehen Mira und Stinger den Schwielowsee und sind von seiner Größe beeindruckt. Vor ihnen liegt eine Wasserwelt, die sie noch nie kennen gelernt hatten. Erst jetzt wird ihnen klar, dass sie mit der Bird of Prey Hunderte von Kilometern auf diesen Gewässern zurücklegen werden. Von der Einsamkeit überwältigt, fahren sie an der Gemeinde Caputh vorbei und dann weiter in Richtung Templinersee. Léon spielt ein wenig den Reiseführer und erklärt, dass dieser ruhige und verträumte Ort Caputh durch Albert Einstein weltbekannt wurde.
Mira unterbricht ihn und will diesmal mit ihrer Bildung glänzen. „Einstein hatte hier in den Jahren 1929 bis 1932 sein Sommerhaus!“, erklärt sie wichtig.
Flocke schaut sie entgeistert an und denkt sich: Was für eine Angeberin!
Aber Mira macht erbarmungslos weiter.
„Heute versuchen die Menschen nicht nur Einsteins Theorien, sondern auch ihn als Mensch zu verstehen. Wie es beispielsweise möglich war, dass ein kleiner Patentamtangestellter diese intellektuelle Größe erlangen konnte.“
Sie sieht Flocke herausfordernd an. Da er nicht über dieses Wissen verfügt, schweigt er.
Nun mischt sich Léon ein.
„Laut Einstein denkt ein Erwachsener kaum über Raum-Zeit-Probleme nach. Einstein behauptet über sich selbst, dass er sich so langsam entwickelt habe, dass er erst dann anfing, sich über Raum und Zeit zu wundern, als er bereits erwachsen war. Sein Vorteil war! Als Erwachsener konnte er tiefer in die Materie eindringen, als ein Kind es tun könnte“, erklärt Léon und merkt, wie er von den anderen entgeistert angesehen wird.
Mira schaut ihn an und fragt sich, woher Léon das weiß. Erst später erfährt sie, dass er sich selbst in dieser Tradition sieht, nicht in der Physik, aber in der Art und Weise, wie er das Leben mit kindlicher Neugier entdeckt.
Während Mira eine Zeitlang nur da sitzt und sich über Léon wundert, fährt die Bird of Prey durch den ‚Tiefersee’, den Jungfern See und schließlich vorbei am Großen Wannsee. Sie durchqueren den Pichelsee, bis sie nach circa vier Stunden Fahrtzeit die Flussmündung der Spree kreuzen.
Ihre Reise geht mitten durch Berlin. Aber sie nehmen das hektische Treiben zur Rushhour nicht wahr. Vom Wasser aus gesehen wirkt alles ruhig und nicht wie eine mit Autos voll gestopfte Großstadt, sondern beschaulich, wie eine eigenständige Wasserwelt mit Sport-, Hausbooten und Passagierschiffen, auf denen Menschen leben. Der Verkehr ist auf der Havel nicht zu hören und nur hin und wieder sind Industrieanlagen zu erkennen, die von Frachtern angesteuert werden. Als die Bird of Prey in der Spandauer Schleuse festmacht, wird Mira erneut neugierig.
„Die müssen ganz schön große Pumpen haben, um das Becken so schnell füllen zu können!“, überlegt sie arglos - ohne zu ahnen, dass sie sich wieder vor den anderen bloß gestellt hat.
Flocke ist belustigt und will gerade den Mund öffnen, um sie zu ärgern, da kommt ihm Léon zuvor.
„Die Schleuse wird durch Klappen geflutet oder entleert. Pumpen brauchen die da nicht“, erklärt er liebenswürdig.
Flocke sieht allmählich ein, dass man als Landratte solche Dinge nicht wissen kann und verkneift sich seinen Kommentar. In dem Augenblick, als Mira das andere Ende der Leine festmachen möchte, senkt sich die Bird of Prey in die Tiefe.
„Nicht belegen!“, brüllt Léon mit panischer Stimme.
„Was?“, erschrickt Mira. Am liebsten würde sie nun von Bord gehen.
Da schaltet sich Stinger mit ruhiger Stimme ein und erklärt beschwichtigend:
„Wenn man das Ende der Leine festmacht, hängt sich das Boot am Tampen auf und durch das tonnenschwere Gewicht würde die Klampe aus dem Rumpf reißen.“
„Na…, und das wäre ein hässlicher Anblick, so in ein Schiff hinein zu schauen“, steigt Flocke in die Belehrung mit ein.
Mira ist frustriert. Sie begreift, dass sie beinahe ein Unheil angestellt hätte und hält den Mund.
Die Tore der Schleuse gehen auf, und der Blick auf die Spandauer Havel wird frei. Léon startet den Bootsdiesel. Mit langsamer Fahrt voraus bewegt sich die Bird of Prey aus der Schleuse. Auf der linken Uferseite haben Lastkähne festgemacht, auf der rechten Seite sind große Gastanks zu sehen. Das Boot nimmt Fahrt auf und kurz darauf passieren sie die grüne Insel Eiswerder mit den vielen kleinen Schrebergärten. Ab der Einfahrt zum Tegler See wird die Havel wieder natürlicher. In allen Richtungen gehen Wasserstraßen ab und für kurze Zeit verliert Léon die Orientierung. Um zu entscheiden, welchen Weg sie nehmen sollen, muss Léon bei Valentinswerder auf die Karte sehen. Plötzlich zeigt Flocke mit dem Finger in eine Richtung.
„Seht dort. Es wäre nicht Berlin, wenn nicht irgendwo ein Schild im Wasser stehen würde, dass uns die Richtung weist“, ruft Flocke.
„Deutsche Gründlichkeit, eben wie auf der Autobahn“, bemerkt Stinger dazu.
Da es mittlerweile schon spät geworden ist, lässt Léon nach einem geeigneten Ankerplatz Ausschau halten und im Niederneuendorfer See werden sie fündig. Léon stoppt auf und Flocke lässt den Anker zu Wasser. Kaum hat Léon den Motor abgestellt, beginnt auf und unter Deck ein hektisches Treiben. Mira muss zur Toilette, Flocke will etwas zu trinken und Stinger möchte unbedingt noch schwimmen gehen. Es dauert eine Weile, bis der Cockpittisch aufgebaut ist und jeder sein Bedürfnis befriedigt hat. Schließlich kehrt wieder Ruhe ein und jeder an Bord hat das Gefühl etwas geleistet zu haben, ohne wirklich viel getan zu haben. Um diesen Tag mit einem guten Schluck zu feiern, holt Flocke aus dem Fach unter dem Salontisch einen zwölf Jahre alten Whisky.
„Welchen Gott müssen wir jetzt besänftigen?“, fragt Mira mit gereiztem Unterton.
„Keinen. Das ist die Belohnung, weil wir schon eine Strecke hinter uns gebracht haben“, antwortet Flocke kurz.
„Hier wird schon vor dem Ablegen getrunken, da ist noch nichts geleistet worden“, sagt Mira schnippisch.
„Das ging doch nur darum, dem Gott des Windes ein Opfer zu bringen“, rechtfertigt Léon.
„Wasser ist eine Naturgewalt. Wenn Abenteurer sich auf diesem Element bewegen, dann müssen sie sich ein wenig Mut antrinken“, versucht Flocke Mira aufzuklären.
„Ich sehe da nur eine billige Rechtfertigung zum Saufen“, meint Mira streitsüchtig.
„Sicher ist jetzt nichts zu befürchten, aber dass wir hier gemeinsam sitzen, ist schon Grund genug, um darauf anzustoßen“, versucht Léon zu schlichten.
Verständnislos bewegt sie den Kopf hin und her und geht lieber unter Deck, um ihr Temperament zu beruhigen. Nachdem Mira das Feld geräumt hat, wechselt Flocke das Thema.
„Bald ist die Deutsche Meisterschaft, was tut sich bei euch, um das große Ziele zu erreichen?“, fragt Flocke.
„Wir trainieren hart und versuchen zu gewinnen“, versucht Stinger die Frage mit wenigen Worten zu beantworten.
„Und…? Hast du schon eine Strategie, wie wir es dieses Jahr schaffen können?“ will Léon wissen.
„Habe ich! Die Verteidigung wird offensiver.“
„Wie denn?“, fragt Léon skeptisch.
„Anstatt zwei nur noch einen Verteidiger am Korb, so können wir mit dem freien Spieler auch noch vorchecken.“
„Dafür werden wir am Korb schwächer.“ Léon überlegt und redet dann weiter. „Wir kommen schneller an den Ball, aber gewonnen haben wir so noch nicht.“
„Zusätzlich werde ich eine Power - Offensive einführen.“
„Eine was?“, wird Flocke hellwach.
„Ich möchte die Mannschaft dahin bringen, dass wir innerhalb von drei Minuten ein Tor machen“, verblüfft Stinger beide mit diesem Vorhaben.
„Per Knopfdruck ein Tor. Das hört sich fantastisch an“, unterbricht Léon Stinger und denkt, der spinnt doch.
Ein Mannschaftsmitglied von dieser Strategie zu überzeugen, ist für Stinger nicht leicht, weil er weiß, wie verrückt sich das auf den ersten Blick anhört.
„Nur wenn man das Unmögliche verlangt, kann man das Mögliche erreichen“, verteidigt Stinger seine Idee.
Léon versucht die Vorteile mit den Nachteilen abzuwägen.
„In diesen drei Minuten soll also jeder alles geben, in der Hoffnung, ein Tor zu erzwingen.“ Léon überlegt. „Das ist ein hohes Risiko. Wenn wir es in diesen drei Minuten nicht schaffen, sind wir erledigt“, begründet er seine Skepsis.
Genau dorthin wollte Stinger Léon haben. Jetzt kann er zu Ende bringen, was er vorhin schon sagen wollte. Er legt sich mit seinem Oberkörper nach vorne.
„Risiko gehört zum Tauchballspiel dazu, wer keins eingehen will, ist in diesem Sport falsch. Ich bin der Meinung, wenn wir Deutscher Meister werden wollen, dann sollten wir alles zum entsprechenden Zeitpunkt auf eine Karte setzen. Zweiter oder Dritter möchte ich nicht mehr werden. Das waren wir schon oft genug!“, argumentiert Stinger.
„Wie willst du diese Offensive Taktik trainieren?“, fragt Flocke interessiert.
Stinger ist erleichtert, er nimmt sein Glas Whisky in die Hand und trinkt einen großen Schluck daraus. Dann lehnt er sich wieder zurück.
„Ganz einfach. Bei jedem Training werde ich einen neuen Spielzug einüben lassen. Wenn wir den beherrschen werde ich die drei Minuten spontan mit meinen Fingern anzeigen und dann hat jeder, aber auch wirklich jeder alles zu geben, das Gelernte erfolgreich umzusetzen“, erklärt Stinger.
Flocke nimmt das Geklapper von Tellern unter Deck wahr. Mira taucht wieder auf und reicht die Teller nach draußen. Der Gedanke, dass sie mithören könnte, lässt die drei verstummen. Noch während des Essens ist es so leise an Bord, dass sie am Abend einen Kuckuck im Wald hören können. Dann wird über Gott und die Welt geredet, bis sie schläfrig in ihre Kojen fallen. Die erste Nacht an Bord ist so windstill, dass die Bird of Prey nur durch das Eigengewicht der Ankerleine auf Position gehalten wird. Dennoch werden alle vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf gerissen. Um vier Uhr morgens wacht Stinger auf. Als er im fahlen Licht des Mondscheins die Türschwelle zur Nasszelle nicht beachtet, stolpert er darüber und fällt mit lautem Gepolter in die Duschtasse. Mira, Flocke und Léon sind sofort hellwach. Léon und Mira können daraufhin nicht weiterschlafen und nach einer halben Stunde lichtet Léon den Anker. Dabei ist nur das Abtropfen des Wassers zu hören.
Mira entdeckt am Ufer ein Rudel Hirsche, deren Augen wie kleine Sterne funkeln. In diesem Moment ist sie froh, diese stille Nacht an Deck zu erleben. Nicht weit von ihrem Ankerplatz beginnt der Havelkanal und führt direkt nach Oranienburg. Léon startet den Motor und lenkt die Bird of Prey vor die Mündung. Vor ihnen öffnet sich eine schwarze Wasserrinne. Riesige Bäume stehen im gleichen Abstand auf dem künstlich aufgeschütteten Deich und ihre Baumkronen verhindern, dass das Licht der Sterne auf das Wasser dringt. Nur die graue Silhouette des aufgeschütteten Ufers hält die Bird of Prey auf Kurs. Léon ist klar, die Natur ist zu solcher Symmetrie nicht imstande. Hier haben Menschen eine nutzbringende Wasserstraße mit befestigten Ufern geschaffen. Der Kanal verläuft in nördlicher Richtung und schon bald ist die Luft erfüllt vom Geruch rostigen Stahls. Bergeweise lagert dieser am Ufer und wartet darauf, verschifft zu werden. Hinter der ersten Brücke tauchen Frachtkähne auf, die in der Morgendämmerung mit einem enormen Getöse von einem riesigen Schrottgreifer beladen werden. Als Stinger und Flocke durch den Lärm aufwachen, haben beide ein pelziges Gefühl auf der Zunge und ihr Schädel fühlt sich an, als wenn der Schrott vom Ufer dort hineingefüllt wird. Beide sagen keinen Ton, aber es ist ihnen anzusehen, wie der Lärm in ihren Ohren tobt. Alle denken nur das Gleiche, langsam vorbei fahren und doch so schnell wie möglich weg von dieser unwirklichen Welt der Endverwertung. Die vier sind froh, als der Lärm nachlässt und die hässliche Schrottindustrie aus ihrem Blick verschwindet. Erst im Lehnitzsee hinter Oranienburg verwandelt sich das Ufer wieder in eine grüne Zauberwelt. Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, prägen jetzt die Landschaft. Stundenlang fahren sie an Feldern, Wiesen und Wäldern vorbei, bis ein riesiges Stahlmonster die Sicht versperrt. Sofort stellt Léon den Gashebel zurück, um die Fahrt aus dem Schiff zu nehmen.
„Das muss das Schiffshebewerk Niederfinow sein. Darüber habe ich schon einiges gelesen“, sagt Léon beeindruckt.
„Das ist keine Schleuse? Wie kommen wir da runter?“, fragt Mira irritiert.
„Senkrecht“, antwortet Flocke bissig, denn auch er hat davon gehört.
Kaum hat er das gesagt, dreht sie ihren Kopf und ihr Blick schießt ihm im Geiste ein Loch in seinen Schädel.
„Es ist ein Aufzug der Superlative“, geht Léon auf Mira ein, um ihr eine bessere Erklärung, als Flocke zu bieten.
Die Signallampe zeigt rot und Léon steuert die Bird of Prey mit aller Vorsicht auf die Einfahrt zu. Der Megaaufzug ist nur wenige Meter von ihnen entfernt und allein der Gedanke, dass es hinter der Einfahrt 60 Meter in die Tiefe geht, lässt bei Mira ein Schwindelgefühl entstehen. Es ist für sie schrecklich, die Kontrolle zu verlieren. Umso schlimmer empfindet sie es, wenn sie ihr Leben voll und ganz ihr unbekannter Technik anvertrauen muss. Das Stahltor fährt nach oben und ein Vorhang aus Wasser tropft auf sie nieder. Die Signallampe schaltet auf grün, und fast lautlos gleitet das Schiff in den über 4300 Tonnen schweren Wassertrog. Da kein anderes Schiff zu sehen ist, fahren sie auf das Ende der Wanne zu und ein majestätischer Blick auf die Auenlandschaft wird frei. In diesem Moment wird der Mannschaft bewusst, dass sie sich mit einem Segelschiff auf einer Aussichtsplattform der besonderen Art befinden. Der Gedanke, die tonnenschwere Yacht nicht aufstoppen zu können, lässt auch Léon erschaudern. Übervorsichtig manövriert er die Yacht zum letzten Poller und hält an. Schnell wird die Bird of Prey mit den Festmacherleinen angebunden. Mira hüpft von Bord. Um noch besser sehen zu können, sucht Flocke mit dem Fernglas in den Flusstalniederungen nach einem geeigneten Liegeplatz für die Nacht. Begleitet von einem Warnton senkt sich die Stahlsperre nach unten und der Trog wird verschlossen. Nun gehen auch Flocke, Léon und Stinger von Bord, und alle schauen weit über das grüne Tal bis nach Polen.
„Von einem Heißluftballon hätte ich so eine Aussicht erwartet, aber nicht von einem Segelschiff“, wundert sich Stinger.
Durch das Marineglas schauend, ruft Flocke aufgeregt: „Habt ihr schon einmal auf einen fliegenden Seeadler runter gesehen?“
„Nein. Siehst du einen?“, fragt Mira neidisch.
„Ja, ein wunderschönes Exemplar.“
„Ich dachte, Adler sind in Deutschland ausgestorben!“, bemerkt Stinger.
„Fast, fast sind sie ausgestorben. Es gibt nur noch wenige Paare. Und die werden rund um die Uhr von Wildhütern bewacht“, erzählt Mira schon automatisch.
Flocke ist sofort von der Besserwisserin genervt.
„Woher weißt du das?“, fragt Flocke.
Da springt Léon ein.
„Sie ist eine Biologin, reitet einen Hengst und ist ständig im Wald. Es wäre merkwürdig, wenn sie nicht darüber Bescheid wüsste“, kommt er ihr zuvor.
„Gleich nachdem ich erfahren habe, dass wir eine Bootstour machen, habe ich mich ein wenig in die heimische Flora und Faune eingelesen“, und sie erklärt weiter, „außer Adlern soll es in dieser Region auch wieder Wölfe geben!“, und sie genießt es Flocke so zu ärgern.
„Jetzt erzählst du uns aber Märchen“, reagiert Flocke gereizt.
„Natürlich nicht, die Wölfe sind von Polen über die Grenze gewandert und verbreiten unter den Bauern wieder Angst und Schrecken!“, erzählt Mira mit innerlichem Grinsen.
Flocke kann es nicht fassen, dass sie so weit geht, um ihn zu provozieren.
„Stinger war in den Karpaten, und da hat er nicht einen einzigen Wolf gesehen. Noch nicht einmal ein kleines Wölfchen und jetzt willst du mir erzählen, dass es hier in Deutschland blutrünstige Raubtiere gibt“, bellt Flocke.
„Wenn man in den Karpaten im Hotel übernachtet, kann man keinen Wolf entdecken“, reagiert Mira wissend.
Stinger schluckt, weil sie recht hat und sich nicht auch noch mit ihr einlassen will.
„Ich habe einen Fernsehbericht gesehen“, mischt sich Léon ein. „Es gibt hier tatsächlich Wölfe, aber nur ein einziges Rudel von sechs Tieren“, sagt er, um die Sache zu klären.
Der Trog ist nun dicht und kurz darauf setzt sich die Wanne mit einem sanften Ruck in Bewegung. In mechanischen Dingen weiß Léon Bescheid und um Mira aus der Schusslinie von Flocke zu nehmen, erklärt er den anderen die technischen Daten des Monsteraufzuges.
„Der ganze Turm besteht aus 13.800 Tonnen Stahl und wurde von 1927 bis 1934 erbaut. 256 Stahlseile halten den Trog mit den Ausgleichgewichten in der Balance. Im Verhältnis dazu sorgen relativ kleine Elektromotoren für die gleichmäßige Abwärtsbewegung“, erklärt Léon und hofft so inständig, eine dumme Frage von ihr vermeiden zu können.

Kapitel 13 Teil 2