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Kapitel 3

Insel Hispaniola


Das Sommersemester ist zu Ende und beim Tauchkurs müssen heute die letzten Übungen abgelegt werden. Léon packt seine Flossen in den Rucksack. Für die Strecke von Babelsberg nach Wittenau braucht er mit dem Rad eine knappe Stunde. Er jagt mit vollem Tempo dahin und hofft dadurch nicht jede Fuge der Pflastersteine zu spüren. Schwer atmend biegt er in die Rue G. Vallerey zum Schwimmbad ein. Beim Anschließen seines Rades wird er von zwei Typen beobachtet. Mit fixierendem Blick geht Léon an ihnen vorbei und ist sich sicher, die beiden gleich wieder zusehen. In der Schwimmhalle angekommen, beobachtet Léon den einen, wie er seine Flossen zusätzlich mit Gummihaltern an den Füßen festmacht, seine Tauchermaske mit einem Geschirr aus Gurten über den Hinterkopf streift und den Schnorchel mit einem Kabelbinder an der Ohrmuschel der Kappe befestigt. Léon ist sich sicher, mit einer derartigen Ausrüstung würde er beim Kampf unter Wasser nichts mehr verlieren, selbst dann nicht, wenn ihn jemand an seiner Maske durch das Becken zöge. Bei dem anderen Spieler beobachtet Léon, wie er sich Tapeband um seine Finger wickelt. Das Kurioseste ist aber, dass dieser sich zwei unterschiedliche Flossen an die Füße steckt. Léon hat keine Ahnung, was das bringen soll. Einem Ritual folgend beginnen sie mit dem Training. Sie tauchen durch das Becken wie Delfine, die auf der Bugwelle vor einem Schiff dahinjagen. Plötzlich taucht Flocke vor Léon auf, und er wird an seine Übung erinnert.
Das Anlegen seiner Taucherausrüstung kann Léon im Schlaf und auch der Flickflaksalto von dem drei Meter Brett ist selbst mit Ausrüstung kein Problem. Nach einer Stunde hat Léon die letzte Übung, das Bergen eines verletzten Tauchers, beendet. Beim letzten Training hat Flocke Léon erklärt, dass er für die Zulassung als Taucher noch Tauchgänge im Meer nachweisen muss. Da Flocke im Sommer auf einer Tauchbasis arbeitet, hat er für Léon eine Unterkunft auf Hispaniola organisiert.
Unter der Dusche lässt Flocke das dampfende Wasser über seinen Körper laufen.
„Nur noch vier Wochen, und dann sehen wir uns auf der schönsten karibischen Insel wieder!“
„Das hört sich gut an“, sagt Léon, der das Gesicht direkt in den heißen Brausestrahl hält.
„Dort gibt es eine außergewöhnliche Unterwasserwelt. Unter Wasser setzt sich die gebirgige Landschaft von Hispaniola fort“, schwärmt Flocke.
Léon schließt die Augen, um von dem tropischen Riff zu träumen, das Flocke so malerisch beschreibt.
„Es gibt dort riesige Barrakudas, mit messerscharfen Zähnen“, erzählt Flocke weiter.
Schlagartig macht Léon die Augen wieder auf.
„Sind die gefährlich?“, fragt Léon automatisch.
„Normalerweise nicht, nur wenn sie dich um Futter anbetteln, dann solltest du deine Hände bei dir behalten!“, antwortet Flocke und schwenkt im Gehen seinen Kopf in Léons Duschkabine ….

… Exakt vier Wochen später wartet Flocke im offenen Teil des Flughafengebäudes von Puerto Plata auf Hispaniola. Er beobachtet die zahlreichen Touristen, die mit ihren schweren Koffern umherlaufen. Von einer Reiseleiterin erfährt er, dass Léons Flugzeug gelandet ist und begibt sich daraufhin zum Ausgang der Passkontrolle.
Flocke ist schon eine Woche auf der Insel. Unter seinem engen Bahamas T-Shirt zeichnet sich sein muskulöser Körper ab. Von der Sonne braun gebrannt, mit dunkler Sonnenbrille auf der Nase und einem weißen Käppi in der Stirn, hat er sich auf der Insel gut eingelebt.

Léon steigt müde aus dem Flugzeug. Er ist sich nicht sicher, ob der Passatwind über den glühenden Asphalt weht, oder ob er noch im heißen Abgasstrahl des Düsentriebwerks steht. Bei der Passkontrolle freut Léon sich, als er durch das Menschengewühl hindurch Flocke erkennen kann. Der Pass ist schnell vorgezeigt, da kommt Flocke auf ihn zu. Kaum haben sie ein paar Begrüßungsworte gewechselt, wird ihnen auch schon das Gepäck davon getragen. Der dominikanische Taxifahrer hält zügig auf einen offen stehenden Kofferraum zu, legt die Tasche hinein und bindet den Deckel mit einem Strick zu. Léon schaut das Taxi verblüfft an. So etwas hat er noch nicht gesehen. Der zerbeulte Wagen muss einmal ein Toyota gewesen sein. Da Léon aber Autoteile von mindestens drei verschiedenen Marken erkennt, ist es schwierig zu sagen. Der Kühlergrill von VW, die Türgriffe von Audi und die Motorhaube trägt das Symbol von Jaguar, was aber die Sache nicht besser macht, da nichts an dem Auto ganz zu sein scheint. Vier verschiedene Felgen, Stoßstangen fehlen ganz und das Fahrzeug ist
übersät von rostigen Beulen, die von etlichen Unfällen herrühren. Innen ist der Wagen nicht besser. Türverkleidungen sind kaputt oder fehlen komplett, und er überlegt, wie diese Blechkiste von der Schrottpresse hüpfen konnte. Ein Wunder - der Motor startet sofort, sowie auch das Wummern des Basslautsprechers hinter Flocke und Léons Kopf. Meerenge dröhnt in ihren Ohren. Flocke spricht den dominikanischen Fahrer in seiner Landessprache an und bittet ihn, die Musik etwas leiser zu drehen. Lächelnd legt der Fahrer sein lückenvolles Gebiss frei und kommt dem Wunsch freundlich nach. Léon genießt es, wie sein Freund die Fahrt in spanischer Sprache organisiert, auch ist es das erste Mal, dass Léon sich sicher ist, im Urlaub nicht von einem einheimischen Taxifahrer übers Ohr gehauen zu werden. Kaum sind sie auf der Straße, sieht Léon eine sechsköpfige Familie auf einem Moto Conchos fahren. Vater am Lenker, Mutter mit drei Kindern auf der Bank und ein Kleinkind klemmt auf dem Tank zwischen den Armen des Vaters. Der Mopedfahrer bemerkt Léons gefesselten Blick, nimmt ohne Furcht die linke Hand vom Lenker und grüßt Léon wie einen alten Bekannten, während sich dazu die gesamte Familie lachend freut, zwei staunende Gringos zu sehen. Die Landstraße nach Imbert führt durch die Berge an tropischen Wäldern und palmenbewachsenen Wiesen vorbei. Auf der Fahrt zur Tauchbasis erzählt Flocke Léon, dass Christopher Columbus seine Lieblingsinsel Hispaniola an ihrem außergewöhnlichen erdigen Duft erkennen konnte, was Léon schwer fällt, da die Luft nach den Abgasen der umhersausenden Moto Conchos riecht. Anschließend beschreibt Flocke, wie er jeden Tag die Tauchtouristen durch die schroffe Unterwasserwelt führt und will schließlich von Léon wissen, was es aus Berlin Neues gibt.
„Wie war das Training?“, fragt Flocke interessiert.
„Gut. Nachdem du fort warst, haben wir im Freibad trainiert. Das hat mir gut gefallen, weil ich da mit meinem neuen Rad auf ruhiger Strecke hinfahren konnte“, antwortet Léon.
“Das sind hin und zurück leicht 100 km“, stellt Flocke beeindruckend fest.
„Über 120 km.“
„Warum fährst du nicht mit deinem Wagen hin?“
„Den habe ich verkauft“, antwortet Léon und wartet auf eine Reaktion.
„Was, du hast deinen Flitzer gegen ein Fahrrad getauscht?“, ist Flocke überrascht.
„Richtig, nur Fahrrad würde ich das nicht nennen. Es ist eine ultraleichte Rennmaschine aus Carbonfasern und damit trainiere ich meine Beine“, erklärt Léon zufrieden.
„Das nenne ich konsequent.“
Dabei presst Flocke die Lippen zusammen.
„Manchmal muss man verzichten, um etwas anderes zu erreichen“, sagt Léon.
Flocke entspannt seinen Mund und sieht ihm ins Gesicht.
„Du hast doch schon eine Topkondition, aber das reicht dir noch nicht?“
„Davon kann man nie genug haben. Außerdem macht es süchtig, wenn man durch seine eigene Power Geschwindigkeit erlebt. Trete ich mit aller Kraft in die Pedale, dann spüre ich jede Faser meiner Muskeln. Trete ich in einem Auto auf ein Gaspedal, spüre ich nicht mal ein Zucken in der Wade“, erklärt Léon; dabei schaut er glücklich aus dem Fenster.
Er sieht mit Regenwald bewachsene Berge, Bäume mit exotischen Blüten und dazu überholt das Taxi einen riesigen amerikanischen Truck der Marke Mack, welcher die Umgebung für Minuten in eine schwarze Abgaswolke taucht. Beim genauen Hinsehen bemerkt Léon, dass die Reifen zerfetzt sind und Léon glaubt, dass die Dominikaner das Wort schrottreif nicht zu kennen scheinen. Nachdem die Luft wieder transparent wird, fahren sie an einheimischen Behausungen aus Wellblech vorbei. Ziegen, Kühe, Schweine, Esel, Hühner, Hunde, Truthähne und Pferde benutzen ebenso selbstverständlich die Straße wie alte Frauen, Mädchen in hübschen Kleidern und Männer mit Macheten.

An der Tauchbasis angekommen rumpelt das Taxi über die Schotterpiste davon, da zeigt ihm Flocke gleich seine Unterkunft. Flocke nennt das kleine Haus „Villa Rosa“, was einfach übertrieben ist. Es steht unfertig mitten in einem wild bewachsenen Hang. Ohne ein Dach ragen rostige Moniereisenstangen hässlich aus der Betondecke. Auch die steile Steintreppe, die zum Wasser führt, ist in der Mitte der Stufen gerissen und insgesamt eine Handbreit abgerutscht. Vertrauenswürdig ist das nicht, denkt Léon, aber die Aussendusche mit dem erhabenen Blick auf die Mangrovenbucht von Luperon ist einer Villa würdig.

Auf dem Bootssteg sind die Tauchanfänger aufgeregt. Auch Léon kann es kaum abwarten, endlich an einem Korallenriff zu tauchen. Mit einem offenen Fischerboot, welches die Einheimischen Lanchia nennen, werden sie zu dem vor Anker liegendem Tauchboot gebracht. Die Rosa Negra, das Tauchboot der Basis wurde in Brasilien im Piratenlook gebaut. Das lange Holzschiff hat zwei gleich hohe Masten, einen schwarzen Rumpf und eine Flagge mit gekreuzten Knochen und einem Totenkopf obendrauf.
An Bord geht das Gewusel mit der Ausrüstung los. Léon stellt fest, dass einige Teilnehmer die gleichen Probleme haben wie zu Beginn des Tauchkurses. Ein übergewichtiger Mann versucht sich in einen Neoprenanzug der Größe L zu quetschen. Bei diesem Anblick kann der einheimische Kapitän nicht mehr wegschauen und muss um den teuren Anzug bangen. Ein anderer hat vor Aufregung vergessen, wie die erste Stufe des Lungenautomaten an die Flasche geschraubt wird. Ohne den O-Ring einzulegen zischt es beim Öffnen der Flasche derartig, dass sich alle die Ohren zuhalten müssen. Auch Léon hat Schwierigkeiten, den Inflator anzuschließen, da der Bajonettverschluss einfach nicht einrasten will. Flocke kommt ihm zu Hilfe, er weiß, dass einige Anschlüsse durch das Meersalz angegriffen sind. Kaum hat Flocke das eine Problem gelöst, wird wieder nach ihm gerufen. Jemand hat seinen Schnorchel vergessen, und einem anderen fehlt Blei zum Tarieren. Léon ist froh, als die Rosa Negra bei Paradise Island vor Anker geht und er endlich in das kristallklare Wasser springen darf. Er taucht ein, die Luftblasen lösen sich auf und plötzlich: Ruhe! Kein hektisches Gerede und keine Motorengeräusche sind zu hören. Léon ist beeindruckt, wie weit er sehen kann. Bunte Fische schwimmen dicht um ihn herum und eine weite Riff- und Felsenlandschaft breitet sich unter ihm aus. Léon fühlt sich wie ein Vogel, der über den Gipfel eines Berges schwebt. Fächerkorallen wohin er auch sieht. Eine zerklüftete Welt voller Überhänge und Spalten. Fasziniert untersucht Léon mit der Gruppe die Unterwasserwelt. Er ist bereit sich in die Tiefe gleiten zu lassen. Da signalisiert ihm Flocke per Handzeichen, dass der Tauchgang beendet wird. Ulli hat das Zeichen für die Luftreserve angezeigt.
Auch an den folgenden Tagen passiert es immer wieder, dass Léon und Flocke ihre Tauchflaschen noch halb voll haben, während andere schon die Reserveluft atmen. Ist das der Fall, schickt Flocke die Gruppe nach oben und wartet bis sie an Bord geklettert sind. Erlöst gibt er Léon das OK Zeichen, und der Tauchgang kann von neuem beginnen. Wie auch an diesem Tag. Beide lassen sich kopfüber im Sturzflug in die Tiefe sacken. Flocke gibt das Tempo vor. Er erhöht den Flossenschlag und seine Atmung wird schneller. Beide tauchen so schnell, dass die Landschaft an ihnen vorbei zu fliegen scheint. Minuten vergehen, da erkennt Léon, dass Flocke ein fernes Tauchrevier ansteuert. Nach einer Hatz über felsigen Grund öffnet sich ein Spalt im Boden. Mit der Strömung schweben sie mühelos um eine Felswand herum. Léon blickt zurück, sieht einen
großen Fisch, der hinter ihnen im Blau verschwindet. Vorne wird der Spalt zur Schlucht. Das Wasser verliert sich im Blau. Der Abgrund ist so tief, dass sie den Grund nicht erkennen können. Léon greift mit den Händen in den grauen Fels. Zieht sich über den Rand. Gemächlich sinkt er tiefer hinab. Auf einmal schießt ein Tigerhai von hinten heran. Léon stoppt. Zwischen den Felswänden schwimmt der Raubfisch majestätisch, krümmt seinen Rücken, zeigt seine hervorstehenden Zähne, dreht und verschwindet hinter dem Felsvorsprung. Léon sucht links und rechts. Er kann Flocke nicht finden. Hektisch wirbelt er herum. Gestresst schaut er nach hinten. Sekunden vergehen und Léon denkt: Scheiße, der hat meinen Kumpel gefressen. Plötzlich baumelt eine Hand vor seinem Gesicht. Geschockt schaut Léon nach oben, entdeckt seinen Freund und ist erleichtert ihn an einem Stück neben sich schwebend zu sehen. Flocke zeigt mit der Hand in eine Richtung und Léon sieht, was er meint. Eine Höhle etwas tiefer gelegen als sie. Beide tauchen direkt darauf zu. Sie schauen sich an und zeigen dem anderen das OK Zeichen. Flocke schaltet seine Lampe ein. Im Lichtkegel leuchtet der Eingang in blauen und roten Farben. Im schönsten Gelb schmücken Krustenanemonen die Decke, und ein Hummer mit seinen beeindruckenden Scheren bewacht die Höhle wie ein Soldat. Innen klettern unzählige Garnelen in Formation die Wand hinauf, dabei lässt das bizarre Licht jeden Gedanken der Vorsicht schwinden und lockt die beiden in das Innere der Höhle. Ein brauner Zackenbarsch schwimmt voraus und zeigt ihnen den Weg durch das Labyrinth der Höhle. Léon und Flocke tauchen tiefer in eine Welt, die wahrscheinlich schon vor tausenden von Jahren so ausgesehen hat. Sie gewinnen an Höhe, da beleuchtet der Lichtkegel eine schimmernde Fläche. Sie tauchen darauf zu, durchstoßen das reflektierende Bild und sind plötzlich von einer Luftglocke umgeben. Von der Höhlendecke hängen schroffe Felsen herunter. Zögernd nehmen beide ihren Lungenautomaten aus dem Mund und stellen fest, dass sie die Luft normal atmen können.
„Wo sind wir?“, fragt Léon mit hohler Stimme.
Flocke schaut sich mit der Lampe um.
„Das ist eine Grotte im Höhlenlabyrinth des Muränenfelsens. Das Riff des Felsmassivs schaut bei ruhiger See aus dem Wasser. Der ganze Unterwasserberg ist von Spalten und Höhlen durchzogen“, gibt ihm Flocke zur Antwort.
„Das ist das urigste Badezimmer, was man sich vorstellen kann“, bewundert Léon die tellerförmigen Auswaschungen an den Wänden.
„In der Tat! Wenn man nur nicht Angst haben müsste ins Klo zu fallen“, scherzt Flocke.
Sie schauen sich begeistert um. Als Léon fragen möchte, woher die Luft kommt, geht das Licht der Lampe aus. Beide können die Hand nicht mehr vor Augen sehen und sie sind vom Schock ganz still. Nur das Schwappen des Wassers ist an den Höhlenwänden zu hören.
Anstatt sich nach der Luftquelle zu erkundigen, fragt Léon schließlich:
„Du weißt doch, wie wir hier wieder rauskommen?“
„Ich denke schon!“, murmelt Flocke.
Léon hört den unsicheren Unterton und macht sich nun auf alles gefasst.
“Da unsere Situation nicht besser wird, sollten wir jetzt zurück tauchen! Für den Fall, dass wir den Ausgang nicht finden, merken wir uns diese Stelle hier!“, bestimmt Léon mit besorgter Stimme.
“Keine schlechte Idee.“
„OK, dann los!“, sagt Léon und nimmt seinen Lungenautomaten wieder in den Mund. Beide nehmen den Kopf unter Wasser und tauchen in die Finsternis hinein. Plötzlich beginnen abertausende Zooflagellaten der Gattung Noctiluca zu glühen. Jede ihrer Bewegungen bringt die algenähnliche Spezies wundersam zum Leuchten. Obwohl sie sich nur zentimeterweise voranbewegen, atmen sie aus Angst schneller, als bei der Hatz um den Berg. Irritiert folgt Léon Flocke, als dieser sich mit den Händen an der rauhen Felswand entlang tastet. In seiner Blindheit stellt er sich die Krabbeltiere, die er im Scheinwerferlicht noch so niedlich fand, riesig vor. In seiner Fantasie werden die Tiere größer und bedrohlich. Jeder Griff in die Wand bedeutet ein Risiko auf ein Krustentier, bewaffnet mit großen Scheren, zu fassen. Endlich fällt ein schmaler Lichtstrahl in das Innere der Höhle. Die Dunklen Umrisse der Wände werden sichtbar. So arbeiten sie sich Stück für Stück voran, bis sie den Ausgang in einem wunderschönen Blau sehen können. Flocke schaut auf seinen Finnimeter und stellt fest, dass er die Reserveluft atmet. Mit dem letzten Atemzug erreichen sie das Tauchboot, auf dem sie scheinbar noch keiner vermisst hat, da sich alle die Erlebnisse unter Wasser gegenseitig und auch noch auf der Fahrt bis zum Ankerplatz erzählen.

Am Nachmittag zieht es Léon vor, anstatt zu tauchen, lieber in den Bergen zu wandern. Er folgt einem Eselspfad hinauf. Ein Bulle mit langen Hörnern versperrt ihm den Weg. Mit schwingenden Armen treibt er das gewaltige Tier mit Mühe in die Büsche. Auf dem vorgelagerten Plateau angekommen, wird er mit einem Ausblick auf die zahlreichen Segelschiffe, die in der Mangrovenbucht vor Anker liegen, belohnt. In der fernen Gebirgskette erkennt Léon, wie das Wasser der Saltos in das Tal fällt. Im Bann von Hispaniola, erfüllt von dem intensiven Geruch der Akazien, macht sich Léon erst am Abend auf den Weg in das Dorf. Zikaden zirpen und die zahlreichen Ankerlichter der Segelschiffe tauchen die Bucht in ein Lichtermeer. Auf dem Rückweg beginnt es in Strömen zu regnen und der staubige Weg verwandelt sich im Nu in eine Rutschbahn aus rotem Schlamm. Endlich ist er angekommen. In der mit Palmen bedeckten Hafenkneipe am Ende der Bucht, wird Léon von Flocke mit einem Glas Cuba Libré in der Hand fröhlich begrüßt. Er wartet nicht alleine, ein bildhübsches Mädchen, welche sie hier Chica nennen, sitzt mit ihm vor seinem Laptop. Sie lächelt ihn an und schaut dann wieder träumerisch auf den Bildschirm. Mit ihrem Zeigefinger spielt sie auf dem Touchpad. Unter seiner Anleitung bedient sie eine interaktive Videokamera auf dem Steg des Yachthafens in Werder. Offensichtlich scheint sie nicht zu wissen, dass Flocke mit ihr nichts anfangen kann. Wie aus dem Nichts setzt sich eine zweite Chica, eine einheimische Schönheit mit Kugelpo, unaufgefordert neben Léon. Die Mädchen ignorierend beginnt Flocke das Gespräch
„Eure Webcam ist eine klasse Sache. Wir sitzen hier am Ende der Welt und können deine Yacht zu Hause betrachten.“
„Nur schade, dass ich jetzt keinen an meinem Boot arbeiten sehe“, scherzt Léon und blickt auf den Bildschirm.
Flocke schmunzelt und bestellt das landestypische Essen, eine La Bandera, da starrt Léon plötzlich, wie von einem Geist berührt, auf den Bildschirm des Computers.
„Ist was?“, fragt Flocke irritiert und betrachtet das nachdenkliche Gesicht von Léon.
„Mir war so, als wenn ein Mann durch das Bild humpelte.“
„Was ist daran so schlimm, was deine Augäpfel hervorquellen lässt.“
„Ach nichts“, antwortet Léon, „das hat mich nur an eine Geschichte erinnert, die ich vor kurzem gehört habe.“
„Erzähl sie mir!“
Léon greift zu seinem Drink und nippt daran.
„Damals, bei dem Deal, erzählte mir der Hafenbesitzer, dass der Eigner auf der Bird of Prey ermordet worden ist.
„Was hat das jetzt mit dem Mann zu tun?“
„Zur Mordzeit wurde jemand gesehen. Er rannte nicht davon, er humpelte wie dieser hier.“
„Du siehst Gespenster. Sieh hin, dort ist niemand mehr zu sehn! Denke lieber an Morgen, es ist unser letzter Tag, da habe ich mit dir etwas Besonderes vor!“
Léon bestellt Bier, zieht die Augenbraue hoch und spitzt seine Ohren.
„Wir gehen beim Torbogen tauchen! Nördlich von El Castillo kann man in 20 Metern Tiefe durch einen Steinbogen tauchen. Mit einer Tauchflasche ist das kein Problem, aber ohne, ist es eine Herausforderung.“
Als beide Chicas frustriert den Tisch verlassen, sagt Léon zum Abschied begeistert:
„Da bin ich dabei. Und deshalb gehe ich jetzt, um morgen früh fit für das Freitauchen zu sein!“

Am darauf folgenden Tag warten sieben Freitaucher am Dingi Steg. Die Sonne brennt, und es hat sich schon rumgesprochen, wo es heute Vormittag hingehen soll. Der starke Außenborder der Lanchia heult auf und mit rasantem Tempo werden sie quer über die Bucht zum Tauchboot gebracht. Die Rosa Negra ist bereit abzulegen, zugleich setzt Flocke die Logge auf Null.
„Was machst du da?“, fragt Léon interessiert.
„Koppeln!“
„Wofür?“
„Der Torbogen liegt so weit draußen, dass ich keine Kreuzpeilung machen kann. Da wir kein GPS an Bord haben, koppele ich die Strecke“, antwortet Flocke mit seinem gleichgültigen Gesichtsausdruck, den er immer auflegt, wenn er Anfängern etwas erklärt.
„Zeigst du es mir?“, bittet ihn Léon mit aufgeregtem Interesse.
„Lustig, das sagt jemand der eine Segelyacht besitzt“, schmunzelt Flocke und dreht den Kopf hin und her.
„Es ist nicht mein Boot und schwimmen tut es auch noch nicht“, rechtfertig Léon seine Unkenntnis.
„Wieso noch nicht?“
„Da ist noch viel zu tun. Bei dem Überfall wurde unter Deck alles verwüstet und dann stand das Schiff jahrelang in einer staubigen Halle rum. Nun habe ich die Inneneinrichtung zum Reparieren ausgebaut. Es wird noch dauern, bis die Bird of Prey wieder gesegelt werden kann.“
„Ich hoffe, du nimmst mich dann mit zum Segeln?“
„Nur, wenn du mir jetzt das Koppeln erklärst! Denn das kann ich bald gut gebrauchen.“
„Versprochen?“
„Sicher, Versprochen.“
„Also, Koppeln heißt, dass ich mit der Logge den Weg in Seemeilen mitzähle. Zusätzlich merke ich mir anhand des angezeigten Kompasskurses die Richtung, in die ich fahre. Sobald ich den Kurs ändere, notiere ich mir die zurückgelegte Strecke und den dazugehörigen Kompasskurs. So finde ich den Torbogen, ohne dass ich einen Anhaltspunkt an Land habe. Aber Vorsicht, diese Technik ist nur genau, wenn man die Abdrift durch den Wind und durch die Strömung mit einbezieht. Um den Torbogen zu finden, hat es bisher immer gereicht.“
„Das werde ich mir merken“, bedankt sich Léon nachdenklich.

Zwei Stunden später, nimmt der einheimische Kapitän die Fahrt aus dem Schiff und setzt den Anker auf einen Unterwasserfelsen. Bei der Tauchgangsbesprechung erklärt Flocke, dass sich der Torbogen direkt unter ihnen befindet.
„Die maximale Tauchtiefe beträgt 35 Meter. Wer von euch möchte durch den Bogen tauchen?“, fragt Flocke in die Runde.
Ein Gemurmel geht durch die Sitzreihen und drei wollen es probieren, während vier mit Tauchgerät zuschauen möchten. Ohne Neoprenanzug und ohne Flasche ist die Ausrüstung schnell angelegt und kurz darauf sind die ersten im Wasser. Auch Léon springt in das Wasser und sucht das Gelände nach dem Torbogen ab. Als er ihn entdeckt, wundert er sich, dass er die Säulen des Torbogens in der dunkelblauen Tiefe nicht sehen kann. Flocke macht den Anfang. Er holt mehrmals tief Luft und taucht auf den Torbogen zu. Alle können sehen, wie er in der Tiefe immer kleiner wird. Es dauert eine Zeit, bis Flocke die Tiefe von 20 Metern erreicht. Einige haben zusammen mit Flocke die Luft angehalten und stellen fest, dass sie jetzt atmen müssen. Flocke verschwindet hinter dem Felsen, um nach einer Weile auf der anderen Seite wieder hervorzukommen. Jetzt muss Flocke noch die gleiche Strecke in die Höhe tauchen, während die Zuschauer die Sekunden zählen. Die Ersten schütteln den Kopf und meinen, dass sie das nicht schaffen werden. Ein junger Mann mit einer knallgelben Taucherbrille will es dennoch probieren. Er holt mehrmals tief Luft, taucht ab, stoppt auf halbem Weg und kehrt mit panischem Flossenschlag zurück an die Wasseroberfläche. Dann will Léon es versuchen. Auch er holt mehrmals tief Luft, taucht ab und merkt, wie sich mit zunehmender Tiefe die Atmosphäre verändert. Wie beim Tauchball kann er sich ohne Tauchgerät schnell bewegen. Mühelos schwebt er durch den Torbogen hindurch und kommt mit langsamem Delfinschlag an die Wasseroberfläche zurück. Seinem Freund ist sofort klar, dass Léon noch Reserven hat und macht ihm einen weiteren Vorschlag.
„Was hältst du davon, wenn wir beide bis zum Grund tauchen?“, fordert ihn Flocke zum Zweikampf raus.
„Warum nicht“, geht Léon darauf ein, „aber beide gleichzeitig, damit es auf dem Weg dorthin nicht so langweilig ist!“, fügt er noch hinzu.
Flocke nickt, beide holen mehrmals hintereinander tief Luft und stecken ihre Köpfe unter Wasser. Während sie sich kopfüber anschauen tauchen sie immer tiefer. Mit schnellen Flossenschlägen hetzen sie am Torbogen vorbei und bald können sie den sandigen Grund erkennen. Erst bei 30 Metern Tiefe kommt ihnen das Gefühl der Atemnot. Léon kennt ein Gegenmittel. Mit derselben Schlucktechnik, die er für den Druckausgleich nutzt, kann er den immer stärker werdenden Reiz, Luft zu holen, für eine Weile unterdrücken. Fünf Metern vor dem Grund kehrt Flocke wieder um, da ihm seine Lunge den Atemreiz erbittert aufzwingt. Er taucht auf und kurz vor der Wasseroberfläche beginnt er wild mit den Flossen zu strampeln, was ihn bis zur Hüfte aus dem Wasser schießen lässt. Der Zwang zu atmen plagt auch Léon zu diesem Zeitpunkt, aber die fünf Meter will er unbedingt schaffen. Er beißt auf den Schnorchel und zwingt seinen Verstand zur Ruhe. Am Grund angekommen, greift er mit der Hand nach einer Muschel, die ihm zuerst entwischen will. Als er das Tier endlich in den Händen hält, steigt Léon auf und bringt sie als Beweis mit nach oben. An Bord sind die Zuschauer beeindruckt und ein Tauchgast erzählt Léon von einem Apnoe Taucher, mit dem Namen Loïc Leferme, der ohne Flasche 154 Meter tief getaucht ist.
„Das sind hin und zurück 308 Meter. Dagegen sind die 70 Meter von mir, ja geradezu lächerlich“, sagt Léon daraufhin mit nachdenklichem Blick.
„Allerdings lassen sich die Apnoe Taucher mit einem Gewicht nach unten ziehen. In der Tiefe greifen sie nicht nach Muscheln, sondern nach einer Plastikkarte aus einem geeichten Tiefenmesser und lassen sich danach mit einem Ballon wieder nach oben bringen“, erklärt der Tauchgast, um Léon zu beruhigen.
„Wie lange kann dieser Loïc Leferme die Luft anhalten?“, interessiert sich Léon weiter.
„Über fünf Minuten“, antwortet der Tauchgast.
„Ein Atemgerät braucht der nun wirklich nicht“, scherzt Léon gedankenvoll.

Fünf Stunden später sitzen Flocke und Léon im Flugzeug nach Berlin und Flocke möchte wissen, warum Léon über das Koppeln nachgedacht hat. Zuerst will Léon diese Frage nicht beantworten, ändert aber spontan seine Meinung.
„Ich habe ein Stück Leinenpapier gefunden.“
Dabei neigt er seinen Kopf zu Flocke, damit ihn die anderen Passagiere nicht hören können.
„Auf dem Papier stehen Kursangaben und ich glaube, dass es sich dabei um Koppelwerte handelt.“
„Ja - und?“, fragt Flocke verwirrt, da er nichts damit anfangen kann.
„Das Leinenpapier ist sehr alt und war in dem Schlüsselanhänger versteckt, den ich zur Segelyacht bekommen habe“, versucht Léon Flocke zu begeistern.
Ungläubig sieht Flocke ihn an, was Léon nicht entgeht.
„Der Anhänger ist ein Zylinder aus Messing auf dem der Name Godewind 1932 in geschwungener Schrift eingraviert ist. Es ist klar, dass damit ein anderes Schiff gemeint ist als die nur zehn Jahre alte Bird of Prey.“
„Das ist nichts Besonderes. Viele Eigner haben einen Schlüsselanhänger von ihrer vorhergehenden Yacht“, wirft Flocke ein.
„So einen nicht!“, versichert ihm Léon. „Nur durch einen Zufall konnte ich den Zylinder öffnen. Und das ist noch nicht alles. Kurz nachdem die Bootswerft die Bird of Prey lieferte, wurde der Eigner auf der Yacht ermordet“, erklärt Léon mit trockenem Mund.
Während er auf eine Reaktion von Flocke wartet, lässt er sich von der Stewardess ein Glas Wasser bringen.
„Humpelfix, der Typ, den du mit der Webcam gesehen hast. Und nun nimmst du an, dass er hinter dem Leinenpapier her war?“, folgert Flocke mit ungläubigem Blick.
„Er und noch jemand. Es waren zwei. Mir ist aufgefallen, dass die Einbrecher nichts von der Bordausstattung mitgenommen haben. Teure Technik haben sie aus der Instrumententafel gerissen und doch liegen lassen. Sie durchsuchten das ganze Schiff, von der Bilge bis zur Mastspitze, ohne etwas mitzunehmen“, erklärt Léon und hofft nun, dass Flocke ihn nicht wieder wie einen Verrückten ansieht.
„Merkwürdig ist das schon“, gibt ihm Flocke recht. „Kann ich das Leinenpapier mal sehen?“, fragt er dann, obwohl er Angst hat, dass Léon ihn nun so ansieht, wie er ihn angeschaut hat.
„Sicher“, antwortet Léon.

Nachdem die Maschine in Berlin Schönefeld gelandet ist und über das Rollfeld zur Gangway fährt, schraubt Léon den Zylinder auf und zieht das rissige Stück Leinenpapier heraus.
Beeindruckt von dem Öffnungsmechanismus und ohne es anzufassen sieht Flocke auf die geschwungenen Zahlen.
„Das sind in der Tat Werte von einer Koppelstrecke!“
„Aber, warum steht da Standort 1/2?“, fragt Léon verständnislos.
„Vermutlich handelt es sich um zwei Koppelstrecken mit den gleichen Kursen.“
Merkwürdig, dass wäre dann doch das gleiche“, überlegt Léon angestrengt.
„Nicht, wenn der Ausgangspunkt ein anderer ist“, kombiniert Flosse aufgeregt.
„Von einem beziehungsweise zwei Ausgangsorten steht hier nichts. Ohne einen Ausgangspunkt ist damit also nichts anzufangen!“, stellt Léon mit verblüffender Klarheit fest.
Als beide bei Léon zu Hause ankommen, hilft ihnen die Spekulation darüber wenig, was dort versenkt sein könnte. Ihnen wird klar, dass sie die Sache vergessen sollten. Dennoch kommt Flocke auf den Gedanken, die Koppelkurse auf einer alten Seekarte vom Fehmarn Belt einzutragen. Da aber die Kurse überall eingetragen werden können, bringt auch dies nichts.
Da hat Léon plötzlich eine Idee:
„Wahrscheinlich brauchte sich der Skipper die Ausgangspunkte nicht zu merken, weil er die sehr gut kannte…“
„… und eines vergisst man als Bootsführer nie und das ist der Ausgangshafen“, beendet Flocke Leons Überlegung mit Gewissheit in der Stimme.
Léon und Flocke haben das Gefühl, der Sache näher gekommen zu sein. Nun müssen sie rausbekommen, wo die Godewind im Jahr 1932 abgelegt hat. Sofort versuchen sie Informationen über Robert Sander zu bekommen und stossen im Internet auf ein denkmalgeschütztes Gebäude am Griebnitzsee. Der Vater von Robert Sander, ein gewisser Prof. Dr. Sander, bewohnte das Haus Urbig vor über 65 Jahren. Da diese Villa von dem berühmten Architekten Mies van der Rohe entworfen worden ist, können sie einiges über das Gebäude und den Eigentümer in Erfahrung bringen.
„Ich habe die Villa schon einmal auf einem Foto gesehen“, wundert sich Léon.
„Wo denn?“, hakt Flocke nach.
„Auf der Bird of Prey. Es hing dort über dem Kartentisch. Zwei Männer sind darauf zu sehen, wobei einer von ihnen der Professor sein muss“, antwortet Léon mit in Falten gelegter Stirn.
Nach kurzer Überlegung gibt Flocke zu bedenken:
„Das alles ist schon lange her. Die Wahrscheinlichkeit noch etwas zu finden, ist sehr gering. Das Versteck könnte längst vom Besitzer aufgelöst worden sein oder jemand anderes hat es vielleicht zufällig gefunden. Warum sollten wir uns darüber Gedanken machen?“
„Einen Grund gibt es schon!“, lässt Léon sich in die Rückenlehne fallen.
„Was für einen?“ fragt Flocke verblüfft.
„Neugier!“, erwidert Léon mit einem frechen Grinsen und beide geben daraufhin das Grübeln für heute auf.

 

Kapitel 4: Mira